- 160 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Bewegung zu sprechen? Erschöpft sie sich doch scheinbar in Reflexion und Bewußtsein von Freiheit. Und wonach richtet sich das Bewußtsein in seiner Öffnung gegenüber dem Bedrohlichen und Unheimlichen des Seins aus? Das bewußte und zielsichere Zugehen, daß der Zuflucht aus Angst eigen ist, muß eine Richtung wählen, wenn es nicht wie die Flucht aus Furcht in heillose Verwirrung geraten will.

     Ziel und Ausgangspunkt der Bewegung werden in der Zuflucht zum Sein aus Angst um das Sein und vor dem Sein eins. Das Gehen ist von der Erkenntnis eines Unbedingten geleitet: dem Bewußtsein von der Endlichkeit des Daseins. Der Mensch geht in der Angst, der Erkenntnis des Unbedingten, mit Bewußtsein auf sein Ende zu. Daher die Freiheit der Bewegung von äußerer, räumlicher Wahrnehmung und Ausrichtung im Raum. Die Geste der Zuwendung und die Empfindung der Zeit durch den inneren Sinn bestimmen die Qualität der Bewegung. Sein und Zeit fallen in der Erkenntnis der Endlichkeit des Seins und der Unendlichkeit des Todes zusammen.

     Die Pantomime kennt ein zielgerichtetes Zugehen, das auf der Stelle verbleibt und seiner Qualität nach leicht und fließend, frei vom Zwang zum Ausdruck, von der Erkenntnis des "Unbedingten" geleitet wird. Solche Bewegung vollzieht sich in der Vereinzelung. Mut und Entschlossenheit zur Angst gehen ihr voraus und kommen in ihr zum Ausdruck. Sie selbst ist flüchtig, doch kehrt sie sich nicht ab, sondern wendet sich dem Bedrohlichen zu. Die Alltagssprache bezeichnet das Flüchtige der Zeit mit der Wendung: "Die Zeit schreitet voran". Sein und Zeit verbinden sich im freien und fließenden Gehen in symbolischer Gestalt. Alles was ist, schreitet bildlich gesprochen in der Zeit flüchtig und doch zielgerichtet voran.



1.2 Flucht und Zuwendung, Phänomenologie des Gesangs


Johann Wolfgang von Goethe gibt von seiner Italienreise aus Venedig vom 6. Oktober 1786 die folgende Schilderung:


Auf heute abend hatte ich mir den famosen Gesang der Schiffer bestellt, die den Tasso und Ariost auf ihre eigenen Melodien singen. Dies muß wirklich bestellt werden, es kommt nicht gewöhnlich vor, es gehört vielmehr zu den halb verklungenen Sagen der Vorzeit. Bei Mondenschein bestieg ich eine Gondel, den einen Sänger vorn, den andern hinten; sie fingen ihr Lied an und sangen abwechselnd Vers für Vers. Die Melodie, welche wir durch Rousseau kennen, ist eine Mittelart zwischen Choral und Rezitativ, sie behält immer denselbigen Gang, ohne Takt zu haben; die Modulation ist auch dieselbige,


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