- 22 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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sie zur Aufführung kommt, als Merkmale der raum-zeitlichen Dimension ihrer Wahrnehmung in sich auf. Sie weist zugleich über den geometrisch begrenzten, äußeren Raum hinaus und dringt in den inneren, unendlichen Raum der zuvor unbewußten Bewegungsvorstellungen, Lichtassoziationen und Empfindungen. Der Aufführungsraum wird zum bloßen und zufälligen Gegenstand. Sie nähert sich so dem "Traumspiel" an, von dem August Strindberg im Vorwort zu seinem gleichnamigen, 1903 entstandenen Drama sagt, in ihm könne alles geschehen, alles sei möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht. Die Phantasie entfaltet sich auf einer geringfügigen Grundlage von Wirklichkeit und webt aus Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen neue Muster. Die Personen spalten und verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, verdichten sich, zerfließen und nehmen wieder Gestalt an.

     Strindbergs Beschreibungen der Traumvorgänge gleichen in vieler Hinsicht der im Jahre 1900 erscheinenden Traumdeutung Sigmund Freuds. Eine Traumzensur im Sinne Freuds finden wir indessen bei Strindberg nicht. Das Bewußtsein des Träumenden steht über allem. Es kennt keine Geheimnisse, keine Inkonsequenz, keine Skrupel, kein Gesetz. Der Träumende verurteilt nicht und spricht nicht frei, er gibt nur wieder. Und weil der Traum meist schmerzlich und nur selten heiter ist, geht "ein Ton von Wehmut und Mitleid  mit allem was lebt durch den voranschwankenden Bericht". Der Schlaf, der Befreier, peinigt oft, doch das Erwachen versöhnt den Leidenden mit der Wirklichkeit. Sie ist in diesem Augenblick doch eine Erleichterung, "verglichen mit dem peinigenden Traum" (Strindberg, "Ein Traumspiel" 267).

     In der Traumdeutung spricht Sigmund Freud von Schwierigkeiten bei der Deutung der Angstträume. Sie stehen im Widerspruch zum Dogma vom Traum als einer Wunscherfüllung im Auftrag der Schlaferhaltung. Freud verweist den Angsttraum schließlich in den Bereich der Neurosenlehre. Das expressionistische Drama der Jahrhundertwende, das ausschließlich literarische und das von ihm beeinflußte Musiktheater, betrachtet den Angsttraum als Bestandteil einer Erkenntnis der Wirklichkeit und der Versöhnung mit ihr. Das Musiktheater der "Wiener Schule" nimmt das Prinzip Hoffnung im Sinne Ernst Blochs vorweg. Es birgt die Angst als ein Existential, nicht allein als Impuls zur Flucht und Abkehr vor einer drohenden Gefahr, sondern zugleich als Bedingung einer Öffnung gegenüber dem Unheimlichen und Bedrohlichen des Seins, mithin als Möglichkeit der Erkenntnis personaler Freiheit.

     Der Gegenstand der Untersuchung wird dadurch umfassend, daß sich Symbole der Angst in der Musik des 20. Jahrhunderts häufig an Bewegungsvorstellungen, eine schwankende Raum- und Zeitempfindung und an wechselnde Licht- und Farbeindrücke anbinden. Erst in einem synästhetischen Zusammenhang erhalten sie ihre


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