- 28 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Nach Freud verleugnet der Wanderer, der in der Dunkelheit singt, seine Ängstlichkeit, ohne deshalb heller zu sehen (Freud, "Hemmung, Symptom und Angst" 241). Er meint freilich gewisse mit Skepsis zu betrachtende Ausprägungen des Idealismus in der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Doch birgt sein Gleichnis die Erkenntnis der möglichen Wirkung von Musik. Ernst Blochs Auffassung von Musik als dem "Glück der Blinden" erscheint in einem neuen Licht. Verleugnet aber die Frau auf dem Wege in das Labyrinth des nächtlichen Waldes ihre Angst, da sie von einer Musik begleitet wird, die jede ihrer Regungen und Empfindungen teilt?

     Der Wechsel vom Vierviertel- zum Dreivierteltakt in Takt 30 steht für ihren Entschluß, sich dem Wald zuzuwenden. Sie richtet mit Beginn von Takt 31, infolge eines Impulses durch die Hauptstimme, der ersten Klarinette auf der letzten Achtel von Takt 30, den ersten Schritt in den nächtlichen Schatten (Beispiel S. 30). Alban Berg überschreibt die Hauptstimme in den Marginalien zu seinem Exemplar des Klavierauszugs aus dem Monodram Erwartung handschriftlich mit "gehend"*. Ein Auszug aus Alban Bergs Exemplar des Klavierauszugs mit Bergs handschriftlichen Eintragungen findet sich in: Siegfried Mauser. Das expressionistische Musiktheater der Wiener Schule. Anhang 17.. Der in Takt 30 einsetzende langsame Walzerrhythmus antizipiert die Gehbewegung und Körperempfindung der Frau. Der Entschluß zur Bewegung löst die Empfindung des Taumels als Symptom einer ängstlichen Erwartung aus.

     Die entschlossene Zuwendung der Frau zum Wald kennzeichnen vier auftaktige und aufwärtsgerichtete Zweiunddreißigstel-Notenwerte der Hauptstimme. Aufschauen und innerer Impuls zum Gehen sind eins. Mit dem Beginn des Gehens wechseln in Takt 31 Haupt- und Singstimme und die II. Geigen zum Neunachteltakt. Schönberg schreibt ab Takt 30 langsame Viertel im Tempo Viertel=44 (Schläge/Min.) vor. Die Frau geht im Tempo der Achtelwerte. Der Neunachteltakt verwandelt das langsame Metrum, das ihre Körperempfindung zum Ausdruck bringt, in ein rasches, doch nicht gehetztes Schrittempo (Achtel=132/Min.).

     Die zweiten Geigen begleiten die Schrittfolge der Frau mit gebundenen Sechzehnteln und Sechzehnteltriolen und geben ihrer Bewegung einen scheinbar fließenden Zusammenhang. In der Melodiebildung weisen beide Stimmen im Neunachteltakt keine einheitliche Bewegungsrichtung auf. Die Frau richtet ihre Schritte nach ständig wechselnden Raumzielen aus. Mit jedem Schritt wendet sie sich von dem jeweils vorherigen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit ab. Der unruhige, beständig die Bewegungsrichtung wechselnde melodische Verlauf beider Stimmen im Neunachteltakt (erste Klarinette in B und zweite Geigen mit Dämpfer) erweist das Fließen in der

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* Ein Auszug aus Alban Bergs Exemplar des Klavierauszugs mit Bergs handschriftlichen Eintragungen findet sich in: Siegfried Mauser. Das expressionistische Musiktheater der Wiener Schule. Anhang 17.


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