- 97 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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1.5 Bergs Verhältnis zur Bewegung


Unter dem Einfluß gegensätzlicher Formkräfte schafft Bergs Musik zur Oper Wozzeck Distanz und Nähe zwischen Publikum und Handlung. Mit wechselnder Perspektive und veränderlicher Schärfe fokussiert sie wie eine Kamera die Impulse und Bewegungen Maries und Wozzecks. Zwar treten die kompositorischen Großformen tendenziell an die Stelle von Schönbergs "Momentformen". Doch sind dieselben inneren Beziehungen musikalischer Figuren und Symbole zu elementaren Erlebnisweisen der Angst wirksam. Selbst innerhalb symphonischer Satzdimensionen ermöglicht die Gleichberechtigung von Konsonanz und Dissonanz und die mehrfache Überlagerung raum-zeitlicher Strukturen zur Körperbewegung simultane musikalische Spannungs- und Entspannungsvorgänge. Neben fortgeschrittene Kompositionsverfahren treten gleichberechtigt die überlieferten syntaktischen Strukturen von Musik und Bewegung. Musik und Tanz berühren sich bei Berg gleichermaßen durch kulturhistorische und psychologische Vermittlung.

     Bergs Bemühen um die Überwindung einer historisch notwendig gewordenen Antithese von Musik und Handlung wird spürbar als Drang zu geschlossenen musikalischen und tänzerischen Formen. Die Trennung von Musik und Bewegung dient in den zentralen Szenen des zweiten Aktes als Ausdruck der Angst und Verzweiflung angesichts äußerster Gewalt. Die von Büchner zentrifugal angelegte lose Folge der Szenen, ihre hohe Expressivität und die unmenschliche Gewalt innerhalb der Handlung stemmen sich einer Einheit von Musik und Bewegung entgegen. Die gleichsam psychoanalytische Perspektive des Textes hat im Hinblick auf die der Oper zugrundegelegten musikalischen Formen sprengende Kraft. Die Inhalte: Bedrohung und Angst, Einsamkeit, Verzweiflung und Sorge zeigen, daß Berg einen letzten strukturbildenden Zusammenhang seelischer Erlebnisse sehnsuchtsvoll vermißt. Die überlieferten Formen bleiben in der Schwebe. Keineswegs werden sie leichtfertig aufgelöst.  

     Bergs Walzern fehlt die beruhigende und das Ich bestätigende Wirkung, die der traditionellen Form aufgrund ihrer Vertrautheit eigen ist. Sie wirken im Gegenteil beunruhigend und beängstigend. Die Empfindung der Angst resultiert aus zerbrochenen ästhetischen Konventionen. Wie uneingelöste Versprechen halten diese die Gesamtheit der Form in Spannung. Als klangliche Abbilder der Angst aus Einsamkeit sind sie Bestandteil der rhythmischen Komposition. Die Bedrohung der Würde ist Ursache spontaner körperlichen Reaktionen, die auf der klangrhythmischen Ebene der Komposition protokollarisch vermerkt sind. Musikalische Signale und zentrifugal


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