20 THEORIEGRÜNDE onen verbunden sind. Heinz Schlaffer hat - explizit Bezug nehmend auf Walter Ong und die wesentlichen Ergebnisse von dessen Arbeit ein weiteres Mal zusam-menfassend - die Unterschiede zwischen einer oralen, das heißt auf Mündlichkeit und Gedächtnisarbeit basierenden Gesellschaft zu einer chirographischen, literalen Gesellschaft wie folgt ausgeführt: die orale Gedächtnisarbeit ist „additiv und nicht - wie es der schriftlichen Darstellung möglich ist - subordinativ, redundant und nicht ökonomisch, konservativ und nicht innovativ, anthropomorph und nicht be-grifflich, sinnlich-konkret und nicht abstrakt, einfühlend und nicht distanzierend, situationsbezogen und nicht kategorial, personal und nicht sachlich, narrativ und nicht kausal, mythisch und nicht historisch. [...] ‘Mündlichkeit’ oder ‘Schriftlich-keit’ bezeichnen demnach nicht bloß verschiedene Medien, sondern ebenso ver-schiedene Denkweisen.“1 Das will präzisiert sein: Über die Kulturtechnik Schreiben zum Beispiel wußte schon Platon in seinem Phaidros zu berichten, daß sie durch die Möglichkeit zur menschenexternen Archivierung das Gedächtnis schwäche. Die Schrift „wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast Du ein Mittel gefunden.“2 So erzählt Sokrates seinem Freund Phaidros die Geschichte vom Kö-nig Thamus, dem Gott Theuth den Nutzen seine Künste darzustellen sucht. Wer aber wollte den der Schreibkunst entgegengebrachten und hier auszugsweise zitierten Bedenken des Thamus widersprechen: Denn in der Tat ist es so, daß im Gegensatz zu der Speichertechnik Schreiben eine reine Gedächtniskultur, also eine mündlich tradierte Gesellschaft, das kulturell relevante Wissen - mit Hilfe ausge-klügelter Verfahren - rein mit der dem Menschen gegebenen Hardware - dem Ge-hirn - zu verwalten und zu überliefern suchen muß.3 Diesen Niedergang der dazu notwendigen enormen Gedächtnisleistungen mit dem Aufkommen der Schrift be-klagte zwar Platon, dies freilich mit dem Mittel der Schrift, so daß sein Klagen auch über Räume und Zeiten hinweg vernehmbar ist. Eine Vielzahl von Effekten sind an jenem einen Beispiel zu verzeichnen, von de-nen einige wenige hier nur genannt werden: Schreiben heißt also, je nachdem, wel-che Lesart man anwendet bzw. welche Gewinn- und Verlustrechnung man aufzu-machen geneigt ist, das Gedächtnis zu entlasten oder zu schwächen, zugleich aber ist durch diese Entlastung die Möglichkeit zur Entwicklung neuer, innovativer Ideen gegeben. Zum Entwerfen gewagten Gedankengutes ist Menschengeist auch deshalb angeregt, weil es fortan wenig Mühe kostet, das neu Gedachte zu spei-chern und im Falle seiner Nicht-Relevanz auch wieder zu löschen. Speichern und löschen bzw. vergessen sind Fähigkeiten, die Menschengeist so ohne weiteres 1 Schlaffer, Heinz, Einleitung zu: Goody, Jack/Watt, Ian/Gough, Kathleen: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, a.a.O., S. 16 2 Platon: Phaidros. Sämtliche Werke V, hrsg. von: Eigler, Gunther. Darmstadt 1983, 275a 3 Vgl. Ong, Walter: Oralität und Literalität, a.a.O., S. 61-71