THEORIE DER NICHT NUR NEUEN MEDIEN 21 nicht erbringt. Daher sind oral tradierte Gesellschaften vorsichtig im Umgang mit neuen Ideen und neuen Gedankengut nicht unbedingt aufgeschlossen. Für jene Ge-sellschaften gilt daher der Grundsatz: „Wissen ist schwer zu erringen und kostbar“, was ein konservatives Denken schlicht vorschreibt.1 Mit der Erfindung der Schrift erfolgt zum ersten Mal eine Trennung des Wis-sens vom Wissenden, was unbedingte Voraussetzung für abstrahierendes Denken ist. Erst über diese Trennung ist eine notwendige Distanz gewährleistet, die Sach-verhalte hinterfragen läßt, da sie den im oralen Sprechakt unmittelbar emotiv Be-teiligten in eine Situation führt, die über die Distanz zum Objekt ein persönliches Unbeteiligtsein evoziert.2 Im Schreiben vollzieht sich ein sukzessives, der Schrift gemäßes, zeilenmäßig ausgerichtetes, ‘lineares’ Ausarbeiten und Ordnen von Gedanken. Dabei bedarf es einer unbedingten Präzisierung der Gedanken, da im Gegensatz zur oralen Rede die die orale Rede begleitenden bedeutungstragenden Gesten und Intonationsfor-men fehlen, und zugleich die Möglichkeit des Nachfragens entfällt. „Folglich hat die Sprache von sich aus so klar zu sein, daß sie auf den existentiellen Kontext verzichten kann.“3 Durch diese die Schrift bedingende Linearität erhalten unsere Gedanken eine nachvollziehbare, eine auch von einem fremden Rezipienten deco-dierbare Struktur, „die eine ganze Dimension unseres Seins innerhalb der Welt in eine Form bringt (informiert).“4 Die Linearität ist Voraussetzung für die Entwick-lung ‘logischen Denkens’, welches sich diametral zum ‘mythischen Denken’, dem „Kreisen der Gedanken“ (Flusser), oraler Gesellschaften verhält. Der Ausbildung der Fähigkeit zu ‘logisch-rationalem’ Denken ist gleichzeitig die Fähigkeit zur Entwicklung eines historischen Bewußtseins implizit. Geschichtsbewußtsein wird erst durch die Schrift möglich. Erst in dem Zusammenfügen von Ereignissen zu Geschehnissen, in dem Erkennen von Prozessen, wird Geschichte wahrnehmbar.5 Präliterale bzw. orale Gesellschaften vermögen keine Geschehnisse zu erkennen, sondern nur isolierte Ereignisse. „Alles wurde damals als ewiges Kreisen wahrge-nommen.“ 6 Orale Gesellschaften neigen zur Homöostasie, zur unbewußten Nivel-lierung geschichtsrelevanter Unterschiede, zur Angleichung bzw. Tilgung nicht mehr für die Gegenwart relevanter Erinnerungen7, was nach J.A. Barnes dann auch als „strukturelle Amnesie“ bezeichnet ist.8 Diese durch die Schrift bedingte Verän-derung der „Denkweise“ und die damit einhergehende Veränderung der Gesell-schaft von einer homogenen, „homöostatischen“ zu einer heterogenen, individuali- 1 Ebd., S. 46 2 Vgl. ebd., S. 50 3 Ebd., S. 105 4 Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf/Bensheim 1991, S. 41 5 Vgl. Flusser, Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen 21989, S.11/12 6 Ebd. S. 12 7 Vgl. Ong, Walter: Oralität und Literalität, a.a.O., S. 51 8 Goody, Jack/Watt, Ian: Konsequenzen der Literalität. In: Goody, Jack/Watt, Ian/ Gough, Kathleen: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, a.a.O., S. 71