22 THEORIEGRÜNDE sierenden Gesellschaft erfährt mit der Einführung des Buchdruckes eine neue Qua-lität, da durch die rasche Akkumulation von Wissen bei gleichzeitig erhöhter Mo-bilität dieser Erkenntnisse erst eine räumlich umfassende Literalisierung und damit Linearisierung des Denkens möglich wird. War schon eine Textgesellschaft dazu angeregt, neues Gedankengut zu erschließen, so wirkt dieser Prozeß mit der mas-senhaften Verbreitung des Wissens durch den Buchdruck nicht nur fort, sondern ist durch ein breit gefächertes, interessiertes Lesepublikum, das sich seine eigenen Gedanken macht, multipliziert: „Nicht Bewahren, sondern Erneuerung, nicht Erin-nerung, sondern Erfindung wird zum neuen Imperativ kulturellen Handelns.“1 Die Erinnerung besorgt nunmehr das Medium Buch, womit sich auch das Wis-sen von seinen Verwaltern löst. Als Folge dieser menschenexternen diskreten Wis-sensspeicherung ist das Buch autorisiert und verbürgt sich für die Richtigkeit des dauerhaft Fixierten. Das führt schlußendlich dazu, daß nur noch alles Gedruckte „als wahres, gesellschaftlich relevantes Wissen“ gilt.2 Die Autorität ist an das Buch adressiert, der Mensch aber dieser Funktion enthoben und kann sich ganz dem Er-finden und Erneuern zuwenden. Jack Goody bringt den Funktionsverlust auf fol-gende Formel: „Die Bedeutung der Lehrer stand im umgekehrten Verhältnis zur Nutzbarmachung der Speicherkapazitäten von Büchern“.3 Diese Tradition einer Schrift- und Textgläubigkeit ist bis heute ungebrochen, denn erinnert sei: nicht je-ner, der sein auf welchem Wege auch immer erzieltes Wissen zu jeder Zeit unter Beweis zu stellen gewillt ist, kommt im allgemeinen zu akademischen oder ande-ren Ehren, sondern mit Abschluß einer Lernperiode ist das Wissen durch das Pa-pier Zeugnis dokumentiert. Dieses legt Zeugnis für die Person ab und gilt für alle Zukunft als Beleg für erworbene Kenntnisse. Das Papier bürgt für die Person. Wer dagegen für sich selbst bürgen will, hat es in einer Textgesellschaft ungleich schwerer. Mit dem Buch ist die massenhafte Produktion erstmals umfassend angeschrie-ben, so daß durch die mögliche Potenzierung von Wissen bei gleichzeitiger Expan-dierung in den Raum die der Schrift innewohnenden Virtualitäten sich erst richtig zu entfalten vermögen. „Die neue Geschwindigkeit der Druckerpresse schuf riesige neue politische Räume und Machtstrukturen, die auf der Entstehung eines neuen Lesepublikums beruhten.“4 Dabei sind, wie die Geschichte des Buchdrucks bei-spielhaft zeigt, Versuche der medialen Botschaft entgegenzuarbeiten von seiten Interessierter schlicht zum Scheitern verurteilt. Es hat immer wieder Bestrebungen 1 Assmann, Aleida & Jan: Medien und soziales Gedächtnis. In: Schmidt, Siegfried J./Merten, Klaus/Weischenberg, Siegfried (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Opla-den 1994, S. 136 2 Giesecke, Michael: Als die alten Medien neu waren, a.a.O., S. 78 3 Goody, Jack: Funktionen der Schrift in traditionalen Gesellschaften. In: Goody, Jack/Watt, Ian/Gough, Kathleen: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, a.a.O., S. 42 4 McLuhan, Marshall: Mit dem Start des Sputnik wurde der Planet zu einem Weltthea-ter, in dem es keine Zuschauer, sondern nur Akteure gibt. In: Reck, Hans Ulrich (Hg.): Kanalarbeit, a.a.O., S. 168