26 THEORIEGRÜNDE „Epoche des Nahen und des Fernen“ bezeichnet wissen will.1 Die Begrifflichkeiten des „Nahen“ und des „Fernen“ erfahren hierbei eine Neudefinierung. Potentiell ‘nah’ ist nun das eigentlich real nicht Faßbare, die über den Bildschirm vermittelte Wirklichkeit des Punktuniversums Fernsehen, ‘fern’ erscheint paradoxerweise das, was nicht über die Fernsehwirklichkeit dargestellt wird: die das Individuum umge-bende reale Welt. Virilio beklagt hierbei den Verlust der „erste Realität“, was die Entmaterialisierung des Raumes zugunsten einer immateriellen, auf Imagination aufgebauten Welt meint. „Was dort gegen den Horizont entschwindet, ist die erste Realität, Raum und Gegenstand der Erfahrung, zugunsten der der raschen Ortsver-änderung, des Gespürs für die Dinge und Stoffe, die zu Zeichen und Anweisungen werden.“2 Die Dissoziierung des Raumes und damit die Aufhebung der Distanz vollendet sich nach Virilio in der Eroberung der Bilder, die die „tellurische Kon-traktion“ (Virilio) Realität werden lassen. Was mit der Entwicklung der „dynamischen Fahrzeuge“ zur Durchschreitung des Raumes begann, vollendet sich mit der Erfindung des „audio-visuellen Fahr-zeuges“, in welchem Virilio eine „letzte Mutation“ sieht; „das statische Fahrzeug als Ersatz für unsere physischen Ortsveränderungen“3 führt zu einer „definitiven Seßhaftigkeit“. In der Begrifflichkeit der „definitiven Seßhaftigkeit“ wird nun die Umkehrung des als ‘nah’ und des als ‘fern’ Empfundenen deutlich. Wenn mit ei-nem Knopfdruck die ganze Welt augenblicklich verfügbar und fiktiv durchschreit-bar wird - lediglich begrenzt durch die Zahl der angebotenen Programme - und somit die „potentielle Reichweite“ (Gumbrecht) des einzelnen als eine globale de-finiert werden kann, wird, so Virilio, uns die nächste Umgebung, „einen kurzen Fußweg entfernt“, als fern erscheinen. Die Konsequenz dessen, was Virilio als Folge einer „Ungeduld des Wartens“ verstanden wissen will, beschreibt McLuhan wie folgt: „Da bei Lichtgeschwindigkeit nichts auf der Welt weit entfernt sein kann, zieht der elektronische Mensch die innere Reise der äußeren und die innere Landschaft der äußeren vor.“4 Die Durchschreitung des Raumes wird in der Imagi-nation vollzogen und dies ohne realen Zeitverlust. Alle neuen informatorischen Technologien zielen darauf ab, Zeit zu gewinnen, zeitlos zu agieren. Die fortschreitende „Zusammenziehung von Dauer“ (Virilio) ist für Gumbrecht der Beleg für den Versuch, „Zukunft zu antizipieren“ und Vergan-genheit zu nivellieren, womit er die gegenwärtige Zeit als in der Ausdehnung be-griffen sieht, in einer Ausdehnung, die die Gegenwart in einer „amorphen Breite“ 1 Foucault, Michel: Andere Räume. In: Barck, Karl-Heinz/Gente, Peter/Paris, Hei-di/ Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer ande-ren Ästhetik. Leipzig 31990, S. 34 2 Virilio, Paul: Fahren, Fahren, Fahren. Berlin 1978, S. 24 3 Virilio, Paul: Das letzte Fahrzeug. In: Barck, Karl-Heinz/Gente, Peter/Paris, Hei-di/ Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer ande-ren Ästhetik, a.a.O., S. 267 4 McLuhan, Marshall: Mit dem Start des Sputnik wurde der Planet zu einem Weltthea-ter, in dem es keine Zuschauer, sondern nur Akteure gibt. In: Reck, Hans Ulrich (Hg.): Kanalarbeit., a.a.O., S. 168