MUSIKGESCHICHTE ALS 44 TECHNIKGESCHICHTE Herrn seiner eigenen Schöpfungen so leicht nicht aufgeben will. Nunmehr er-scheint ein solcher Widerspruch, wo er denn sich rührt, um so erstaunlicher, da die mediale Qualität eines Instruments als technische Gegebenheit als werkestrukturie-rende Kraft quer durch die Jahrhunderte hindurch erkannt und akzeptiert war, ohne daß sich dieses Wissen des Mediums als formgebende Kraft bei einer Analyse von Werken in irgendeiner Form nachhaltig niedergeschlagen hätte. So spricht bei-spielsweise Pierre Boulez davon, daß man beim Gebrauch „natürlicher“ Instrumen-te „vor allem auf die Möglichkeiten [achtet], die durch sie gegeben sind. [...] Die Möglichkeiten liegen bereits als virtueller Zustand innerhalb sehr präziser und als bekannt vorausgesetzter Grenzen im Klangerzeuger selbst.“1 Komponieren in die-sem Sinne hieße also nur eine Verwirklichung der in den Instrumenten liegenden Möglichkeiten anzustreben. Wilhelm Killmayer - ein Zeitgenosse Boulez - qualifi-ziert Regers Musik wie folgt: „Seine gleitende Melodik und Harmonik hat mit dem Fingerlegato des Orgelspielers zu tun, was vielleicht, ganz nebenbei, ein Hinweis darauf ist, daß Musik und deren Erfindung oft mit körperlichen Beschaffenheiten oder Vorlieben zu tun hat und nicht ausschließlich musikgeschichtliche Aspekte in sich trägt.“2 Vorlieben sind aber nicht aus dem Nichts gewonnen, sondern in der Rückkopplung mit dem Instrument. Und Saint-Saëns - des weiteren - sprach zu Recht vom „esprit du clavier“ - vom Klavier- oder Klaviaturbewußtsein -, das die Kompositionen bestimmte, und er schrieb: „Wer wäre im übrigen in unserer Zeit nicht dem zwingenden Einfluß des Klaviers ausgesetzt? Dieser Einfluß begann be-reits vor dem eigentlichen Klavier zu wirken ... In dem Augenblick, da die tempe-rierte Stimmung zur Vertauschbarkeit von b und # geführt hatte und somit die Verwendung sämtlicher Tonarten möglich geworden war, trat das Klavierbewußt-sein in die Welt ... diese Klavierbezogenheit ist durch die grenzenlose Verbreitung der enharmonischen Ketzerei zum tyrannischen Zerstörer der Musik geworden.“3 Als aus dieser Tyrannei ausgenommen sah deshalb Saint-Saëns einzig Künstler, wie den von ihm explizit hervorgehobenen, weil klavierunkundigen Hector Berli-oz, was diesen allerdings in seinem Werdegang zum Komponisten bisweilen nicht unerheblich behinderte, mußten denn zu dessen Lebenszeit Werke klaviergerecht ausgeführt sein, wollten Preise, die den Fortgang sicherten, erworben sein. Und so galt die Formel: was den zehn Fingern des auf dem Klavier Vortragenden unmög-lich zu realisieren war4 oder sich mit dem Klavier klanglich sich nicht entfalten ließ, wurde für nicht ausgereift oder gleich für unaufführbar gehalten, was, da das solchermaßen Qualifizierte somit Preisen und damit auch Orchestern vorenthalten 1 Boulez, Pierre: An der Grenze des Fruchtlandes. In: Eimert, Herbert unter Mitarbeit von Karl Heinz Stockhausen (Hg.): Die Reihe 1. Elektronische Musik. Wien/Zürich/ London 1955, S. 47 2 Killmayer, Wilhelm: Gegenwärtige Gedanken zum Rückblick auf eine Zukunft. Fast hundert Jahre Neue Musik. In: Kolleritsch, Otto (Hg.): Wiederaneignung und Neube-stimmung. Der Fall „Postmoderne“ in der Musik. Wien/Graz 1993, S. 8 3 Camille Saint-Saëns, zitiert nach Kurt Blaukopf: Musik im Wandel der Gesellschaft. München 1984, S. 139 4 Vgl. Berlioz, Hector: Memoiren. Hamburg 1990, S. 46f.