MUSIKGESCHICHTE ALS 46 TECHNIKGESCHICHTE realen Klangereignissen absieht, seine tiefste Erfüllung findet.“1 Dem jeweiligen Entwicklungsstand der Notationsformen war dann die jeweils erklingende Musik gemäß. Als Virtualität sind bestimmte musikalische Formen der Notenschrift im-manent, welche sich dem Komponisten - mit Stift und Notenpapier ausgerüstet - durch das Medium Notenschrift mitteilen. Obwohl dieses Wissen also im Grunde genommen Allgemeingut ist und man darum wissen kann, wenn man nur will, verliert sich dieses Wissen respektive er-fährt es im allgemeinen kaum Berücksichtigung mehr dort, wo Werke einzig genu-in angenommenen „Schöpfern“ zugeschrieben sowie mit ausschließlichem Bezug auf deren Intentionen zu erforschen gesucht werden. Die folgenden Ausführungen wollen nunmehr den medialen Bedingungen einer Musik Rechnung tragen. Die Auseinandersetzung, die dabei in dieser Arbeit angestrebt ist, ist primär die mit den neuen - digitalen - (Musik-)Technologien. Bevor neue (Musik-)Techno-logie oder anders ausgedrückt: das diskrete Tun der Archive eingehender beleuch-tet wird, lohnt es aber, auf das Wirken einer noch analog, gleichwohl schon elekt-ronisch/ elektrisch prozedierenden Technologie zurückzublicken, welche partiell das Wirken ihrer digitalen Nachfolger schon vorwegnahm. Mit der Erfindung des Grammophons in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine Entwicklung in der Musik freigesetzt, die ohne Übertreibung revolutionär genannt werden darf, ja muß. Verbesserungen, Veränderungen, Neuentwicklungen an Aufnahme- und Wiedergabetechnik in der Folgezeit schließlich führen dazu, daß Chronisten der Jetztzeit im Rückblick die Bedeutung dessen, was an Technologie dort seinen An-fang nahm, auch entsprechend wertschätzen. Gleichgültig, ob eine solche Wert-schätzung positiv oder negativ ausfällt, immer wird sie eindeutig in eine der beiden möglichen Richtungen deuten und damit dem revolutionären Charakter des Entwi-ckelten gerecht werden. Indifferenz ist schlechterdings nicht möglich, angesichts jener epochemachenden Erfindung der Schallaufzeichnung und ihren Folgen. „Die für den Menschen als Menschen schlimmste technische Erfindung unseres Jahr-hunderts ist - trotz der mit Atom und Atomspaltung zusammenhängenden Erfin-dungen - die des Lautsprechers, bzw. der Kombination Mikrophon-Verstärker- Lautsprecher. Ihr nämlich ist es zu verdanken, daß man zwar ein übermenschlich großes Stadion beschallen kann, aber auch, daß die Menschen das Hören als Zuhö-ren verlernt haben und nicht mehr lernen“.2 Nun mögen Chronisten, wie hier ge-schehen, das Schlimmste ausgemacht haben, was dem Menschen in diesem Jahr-hundert hat widerfahren können; allein hierzu wäre wohl manches zu entgegnen. Erkannt ist in jenem den Niedergang der abendländischen Musikkultur beklagen-den Artikel immerhin, daß mit der Möglichkeit der Schallaufzeichnung sich etwas ereignet hat, was wesentliche Auswirkungen in der Musikkultur gezeitigt hat. Das Grammophon und dessen Folgemedien haben Musikgeschichte geschrie-ben. So erhält die Überschrift „Musikgeschichte als Technikgeschichte“ ihren 1 Scherer, Wolfgang: Satie’s Fiction. In: Kittler, Friedrich/Tholen Georg Christoph (Hg.): Arsenale der Seele. München 1989, S. 26 2 Feil, Arnold: Metzler Musik Chronik vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Stutt-gart/ Weimar 1993, S. 747