Phonograph - Schallplatte oder die vermeintliche Kunst des Bauchredens „Hätten wir doch eine Einrichtung ersinnen können, die jedem bei sich zu Hause Mu-sik verschafft, vollkommen in ihrer Art, unbeschränkt in ihrer Dauer, jeder Stim-mung angemessen und nach Wunsch be-ginnend und aufhörend, dann hätten wir die Grenze menschlicher Glückseligkeit schon erreicht geglaubt und aufgehört, nach weiteren Verbesserungen zu stre-ben.“ 1 Am 6. Dezember 1877 beginnt mit dem von Thomas Alva Edison gesungenen Kinderlied „Mary had a little lamb“, dessen Melodie und Worte sich einschreiben in die rotierende Stanniolwalze der von ihm „rein zufällig“2 erfundenen und von ihm selbst als Phonograph bezeichneten Sprechmaschine, die Epoche der Tonauf-zeichnung, deren Bedeutung für die Gesellschaft auch hundert Jahre nach ihrer Er-findung weder hinreichend erforscht noch gewürdigt ist.3 Bezug nehmend auf den Buchdruck, der Voraussetzung für die Ermöglichung einer Gesellschaft wie der unseren ist, schreibt Kurt Blaukopf, die Schallaufzeichnung qualifizierend: „Die Vervielfältigung gespeicherter akustischer Information hat für unsere Epoche ähn-lich umwälzende Bedeutung. Der Tonträger wird zum gesellschaftlich dominieren-den Vermittler musikalischer Botschaften.“4 Doch nicht die Vervielfältigung akus-tischer Informationen war es, die am Anfang dieser neuen Epoche stand und Auf-sehen erregte, sondern ganz fraglos erst einmal die Speicherung derselben, was sich in einem Artikel der Zeitschrift „Scientific American“ aus dem Jahre 1877 mit folgenden Worten mitteilt: „Speech, as it were, has become immortal“.5 Damit ist präzise beschrieben die Qualität der neuen technischen Erfindung des Phonogra-phen. Nicht mehr länger nur Symbolisches ist es, das stellvertretend für das Reale in aufgeschriebener Form zu überdauern vermag, sondern Reales selber ist es, das sich einschreibt. So ungeheuerlich und unerklärbar erklingt das bislang Unerhörte, daß noch ein Jahr nach der ersten erfolgreichen Aufzeichnung und Wiedergabe, im Jahr 1878, der Franzose Jean Bouillard den Phonographen als Schwindel und die 1 Edward Bellamy im Jahre 1887, zitiert nach Blaukopf, Kurt: Hexenküche der Musik. St. Gallen/Wien, o.J, S. 82 2 Vgl. Vögtle, Fritz: Edison. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 42 3 Neben Edison ist der Franzose Charles Cros als Erfinder des Phonographen zu nennen. Das technische Prinzip zu seinem „Parleophone“ hatte er acht Monate vor Edisons er-folgreichen Versuch der Sprachaufzeichnung schriftlich niedergelegt. Zur Realisierung seiner Sprechmaschine fehlten ihm allerdings die finanziellen Mittel. 4 Blaukopf, Kurt: Massenmedium Schallplatte. Wiesbaden 1977, S. 12 5 Zitiert nach Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 37