Von der Einschreibung des Realen „Auf der Schallplatte geschieht, was in den ägyptischen Königsgräbern geschah: Man mauert die lebendige Dienerschaft mit ih-rem toten Herrn ein.“1 Neben die traditionellen Aufzeichnungssysteme, wie die Notenschrift eines ist, tritt mit dem Phonograph ein Medium, das es erlaubt, Reales selbst aufzuzeichnen und wiederzugeben. Das Notieren in Noten ist entweder eine (Re-)Präsentation einer lediglich in der Vorstellungswelt eines Komponisten existierenden idealen Klanggestalt oder der Versuch einer ungefähren Niederschrift eines tatsächlich stattgefundenen musikali-schen Ereignisses. Es ist also entweder der Versuch, ein in abstrakten Zeichen ver-schlüsseltes konkretes materielles Abbild einer noch nicht existenten, weil ledig-lich vorgestellten Musik zu bieten oder das Abbild eines im Augenblick des Er-klingens Entschwindenden zu fixieren. In beiden Fällen ist es eine Übersetzung in die Verhältnisse von Oktave, Quint, Quart, Terz, etc., auf denen unser europäi-sches Notensystem beruht, und damit vermag die Notenschrift lediglich einen ru-dimentären Ausschnitt des vorgestellten oder tatsächlichen Klangbildes zu gewähr-leisten. Während also das im Notenschriftbild Fixierte das ehedem Erklungene oder das in der Imagination Erklingende als ein in Intervallverhältnisse zerteiltes wieder-gibt, wobei die einzelne Note nicht Repräsentant eines einzelnen Tones, sondern eines vielschichtigen Ganzen - eines Klanges - ist, vermag nunmehr seit Edisons Sprechmaschine das komplexe Reale, also dessen spezifische Teiltonzusammen-setzung, in Form von Schwingungen festgehalten zu werden. „Schwingungen, auch in Gottes Stimme, sind Frequenzen, weit unter der Wahrnehmungs- und No-tationsschwelle von Einzelbewegungen. Weder Bibel noch Fibel könne sie auf-schreiben.“ 2 Die präskriptiven Notenzeichen bedürfen bei einer Erst- oder Wiederaufführung also erst der Interpretation durch einen Ausführenden - eines Interpreten -, bevor konkret erklingende Musik wird, was zunächst abstrakte Schrift ist. Dabei ist im Grunde genommen auch jede Wiederaufführung eine Erstaufführung, da sie zum einen ein jedes Mal der erneuten Interpretation bedarf, zum anderen, selbst wenn der Wunsch nach einer identischen Wiederaufführung besteht, die existentiellen Möglichkeiten des menschlichen Seins keine identische Präsentation auch nur ei-nes einzigen Lautes zulassen. „Ursprünglich waren alle Laute Originale. Sie kamen nur einmal an einem Ort vor. [...]. Jeder Laut war unnachahmbar, einmalig. Laute waren einander ähnlich, sie waren jedoch nicht identisch. Tests haben bewiesen, 1 E. Roth, zitiert nach: Becker, Peter: Zwischen Markt und Kultur - Zur Ortsbestimmung der Schallplatte. In: Lugert, Wulf Dieter/Schütz, Volker (Hg.): Aspekte gegenwärtiger Musikpädagogik. Ein Fach im Umbruch. Stuttgart 1992, S. 9 2 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme, a.a.O., S. 236