MUSIKGESCHICHTE ALS 58 TECHNIKGESCHICHTE rung der ‘Aura’ läßt sich auch bei Aufführungen von Klassikkonzerten ausmachen: „Plattenaufnahmen, die in Koppelung mit Festspielaufführungen entstehen und diese zugleich dokumentieren sollen, zielen ebenso auf die Wiedergewinnung des Auratischen wie die Praxis einiger Firmen, die perfekte Studio-Einspielung eines Werkes durch den unmittelbarer und ereignishafter wirkenden ‘Mitschnitt’ einer Konzertaufführung aus dem Feld zu schlagen.“1 Indem Musik nicht in einem ano-nym bleibenden Tonstudio aufgezeichnet wird, wobei der Aufnahmevorgang sich über Tage bis hin zu Jahren erstrecken kann, sondern Ort und Zeit der Aufnahme eindeutig rekonstruierbar bleiben, vermag auch der Träger einer musikalischen In-formation, durch seine Eingebundenheit in einen zeitlich wie räumlichen Kontext, Originalität und Historizität zu erlangen. „Für alle Zeit können sie überprüft, kriti-siert oder gepriesen werden als sicher in der Zeit lokalisierte Dokumente, über die, wegen dieser Gesichertheit, eine große Menge an Informationen und, in gewissem Sinne, eine emotionale Beziehung unmittelbar verfügbar ist.“2 Unterstützend kommt hinzu, daß dem Aufgezeichneten anhaftende akustische Störungen wie Publikumsgeräusche u.ä. und andere aufnahmetechnisch begründete Charakteristi-ka und Unzulänglichkeiten dem Ganzen Originalität abverlangen. Sie beweisen, solange solche akustischen Störgeräusche nicht künstlich hinzugefügt werden, die tatsächliche und unverwechselbare Begebenheit. Nicht umsonst erfreuen sich auch viele unautorisierte Mitschnitte von ‘Live’- Auftritten und Schwarzpressungen (Bootlegs) mit teilweise katastrophaler Klang-qualität großer Beliebtheit. So ist es dem Hörer möglich, an einen bestimmten konkreten Konzertbesuch gekoppelte Erinnerungen zu reaktualisieren. Des weite-ren sind solche Schwarzpressungen im allgemeinen nicht beliebig verfügbar, so daß der Besitz einer solch seltenen Aufzeichnung für sich einen relativen Wert be-sitzt. Vielfach werden allerdings ‘Live’- Aufnahmen nachträglich bearbeitet, so daß individuelle Merkmale wie die beschriebenen um einer besseren Qualität Willen mit Hilfe von Studiotechnik eliminiert werden. Aus demselben Grunde werden auch zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommene Musikaufnahmen zu einer einzi-gen ‘Live’- Aufzeichnung zusammengefügt. Was sich dann als Einheit präsentiert, ist durch Studiotechnik erst zur Einheit zusammengeschmolzen und im nachhinein zum erlebenswerten ‘Live’- Ereignis gereift, da aus den während einer langen Konzerttournee angefertigten Musikaufnahmen das beste Material nunmehr aus-gewählt sowie daraus ein anhörenswerter aura-behafteter Tonträger zusammenge-stellt werden kann. Das solchermaßen technisch bearbeitete musikalische Werk wird trotzdem noch mit dem Etikett ‘Live’ versehen, also etwas, was doch schon längst nichts mehr mit der originalen Aufführung zu tun hat und als Zeitzeugnis nicht mehr tauglich ist. „Das, was von der Plattenfirma als ‘Lebendiges’ angepriesen wird, ist in Wahr- 1 Blaukopf, Kurt: Beethovens Erben in der Mediamorphose, a.a.O., S. 160f 2 Gould, Glenn: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. München 21992, S. 143