ORIGINALITÄT 59 heit ein Surrogat“1 oder - mit Baudrillard - es ist medientechnisch ein hyperreales Szenario entworfen worden, ein Simulakrum, etwas, das lediglich echt scheint, das die Differenz zum Echten aufzulösen bestrebt ist.2 „Das Reale verschwindet nicht zugunsten des Imaginären, sondern zugunsten dessen, was realer als das Reale ist: das ist das Hyperreale. Wahrer als das Wahre: das ist die Simulation.“3 Hyperreale Spektakel lassen sich also als mit Simulationsentwürfen angereicherte Szenarios darstellen, welche vorgeben, Realität abzubilden, wo doch Verschränkungen zwi-schen Simulation und Wirklichkeit statthaben. Es geht dabei nicht um die bloße Ähnlichkeit von Simulakren und Realität, sondern um ein Äquivalenzprinzip, wel-ches beide einander identisch setzt und die Frage nach einer unverlorenen, unbe-handelten Wirklichkeit obsolet werden läßt. Indem Simulakrum und Realität ei-nander äquivalent gesetzt werden, vermag das Reale am Ende selbst nur noch als das zu erscheinen, „was immer schon reproduziert ist. Hyperreal. [...] die Realität selbst ist heute hyperrealistisch.“4 Das Hyperreale ist zuletzt in einem jeden aufgezeichneten Musiksignal präsent. Laut und leise, brillant und weniger brillant waren immer schon nicht allein abhän-gig von Virtuosentechnik, sondern von möglichst langen Faderwegen und bedurf-ten frequenzmanipulierender Equalizer. Klaviervirtuosen schon im Jahre 1950 vermochten unter Ausnutzung schlechter Studiotechnik zu sagen: „[I]ch hatte ge-lernt, schöpferisch unehrlich zu sein“5, was auch heißen mag, ein Simulakrum ge-schaffen zu haben, etwas, das es so, wie es klingt, nie gegeben hat - aber trotzdem real ist: eben hyperreal. So wird folglich auch das nachträglich bearbeitete Original einer ‘Live’- 1 Rzehulka, Bernd: Abbild oder produktive Distanz. In: Fischer, Matthias/ Holland, Dietmar/ Rzehulka, Bernhard: Gehörgänge, a.a.O., S. 108 2 Auch da, wo sich eine ‘Live’- Aufzeichnung als Zusammenschnitt zu erkennen gibt, bleibt das Trugbild des Unverfälschten bestehen, sind jene Angaben, was welcher Auf-führung entnommen ist, doch zumeist so positioniert, daß sie nicht unbedingt ins un-mittelbare Blickfeld geraten. Und selbst wenn dies der Fall wäre, bleibt es für den mu-sikalisch Interessierten doch technischen Laien undurchschaubar, welche technischen Geräte zur Klangverbesserung oder zur Eliminierung von Störgeräuschen verwendet wurden. 3 Baudrillard, Jean: Die fatalen Strategien. München 1991, S. 12 4 Vgl. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, a.a.O., S.116 5 Gould, Glenn: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, a.a.O., S. 162 Glenn Gould spielte im Dezember 1950 im Rundfunk für die Canadian Broadcasting Company (CBC) zwei Klaviersonaten von Mozart und Hindemith. Das auf Schallfolie gepreßte Musikereignis unterzog er diversen Frequenzmanipulationen. Und es ergab sich, daß „das unscharfe, ungefüge, baßorientierte Studioklavier bei der Wiedergabe auf wunderbare Weise in ein Instrument verwandelt werden konnte, das scheinbar der [...] klanglichen Perversionen fähig war, [...]. [...] Ich hatte die primitivste Technologie dazu gebracht, eine Andeutung dessen zu fördern, was nicht war; mein eigener Beitrag als Künstler war nicht länger das A und O des vorliegenden Projekts, nicht länger ein Fait accompli. Die Technologie hatte eine Position eingenommen zwischen dem Ver-such und der Verwirklichung“ (ebd., S. 162).