MUSIKGESCHICHTE ALS 60 TECHNIKGESCHICHTE Aufführung vom Rezipienten nachgerade als Zeitzeugnis akzeptiert, welches die-ses nicht spiegelt; es erweist sich als die Realität der Aufführung, an der sich künf-tige Aufführungen messen lassen müssen, denn das fertige Produkt stellt sich ja als die Fixierung einer originalen Musikaufführung dar. „Es stellt sich somit eine künstlich geschaffene Überrealität des Musizierens ein.“1 Und folglich ist an Mu-siker die Anforderung gestellt, diese Überrealität auch auf der Bühne zu reprodu-zieren. Rzehulka macht auf den Unterschied zwischen einer ‘Live’- Aufzeichnung aus den Anfängen der Tonaufzeichnung und einer ‘Live’- Aufzeichnung der Jetztzeit aufmerksam und weist darauf hin, daß man es heute mit „etwas grundsätzlich An-derem zu tun hat.“2 Die frühe Aufzeichnung vermag gerade durch die fehlende o-der mangelhafte Möglichkeit zur Manipulation des Fixierten eine „Aura“ zu kon-stituieren, welche nicht allein durch spieltechnische Fehler, atmosphärische Stö-rungen u.ä. bedingt ist, sondern gleichwohl auch vom zugrunde liegenden mangel-haften Aufnahmeverfahren. Nicht vermeidbare Verzerrungen durch eine nicht aus-reichend ausgereifte Mikrophontechnik bei der Aufnahme oder technisch bedingte Klangverfärbungen wie das Näseln der menschlichen Stimme legen gleichsam ein Zeiten bekundendes Zeugnis ab. Das Medium schreibt also sich in der Frühzeit der Tonaufzeichnung selbst deutlich mit in die Aufzeichnung ein und indem es sich selbst offenbar macht, bekundet es dabei sein eigenes Eingebettetsein in die Zeit. Grundsätzlich vermag sich demnach auch in jedem auf analogem Wege Aufge-zeichneten und Reproduzierten noch ein Hauch des Auratischen zu konstituieren. Auch das Reproduzierte/ die Kopie hat noch etwas unverwechselbar eigenständi-ges und individuelles, denn das Reproduzierte/ die Kopie weist durch das zugrun-deliegende Kopierverfahren eine im Idealfall minimale, doch gleichwohl unver-wechselbare Differenz zur Vorlage auf. Die jeweils von der Kopie der vorange-gangenen Generation gezogene Kopie eines musikalischen Ereignisses endet nach einem n-ten Kopierdurchgang im absoluten Rauschen. Es sind die unvermeidlichen Fehler, die bei einer jeden Vervielfältigung auftreten, die solche Unterschiede be-dingen und somit auf eine bestimmte Situation und Präsenz verweisen und ein si-cherlich vervielfältigtes, doch gleichwohl immer noch vorhandenes Hier und Jetzt begründen. Materialitätsgebundene Speicherung ist nichts anderes als materiali-sierte Geschichte, die nicht nur die willentlich vorgenommene „In-Skription“ be-kundet, sondern die auch - da sie den Einflüssen der Umwelt ausgesetzt ist und al-so dem Strudel der Entropie entgegenströmt - ein fortwährend Zeitzeichen auf-nehmendes und damit den Zeitenfluß bekundendes Zeugnis ist. So, wie allein schon die Existenz einer Schallplatte einen bestimmten histori-schen Abschnitt zu markieren in der Lage ist - man möge sich in diesem Zusam-menhang nur einmal an die längst Geschichte gewordenen Schellackschallplatten erinnern -, vermag sich der Eindruck des Vergangenen beim Hören der Musik noch zu verstärken und den zeitlichen Rahmen weiter einzugrenzen. Auch die dem ana- 1 Rzehulka, Bernhard: Abbild oder produktive Distanz. In: Fischer, Matthias/ Holland, Dietmar/ Rzehulka, Bernhard: Gehörgänge, S. 110 2 Ebd., S. 108