GESAMMELTE SAMMLUNGEN 63 Spur verweist immer auf Spuren, die Spuren von Spuren sind.“1 Seitdem Musik in Form eines materiellen Speichers begreifbar ist, ist die Mög-lichkeit zur Ausbildung einer dauerhaften wie gleichwohl rückwärtsgewandten Identität gegeben, welche die Möglichkeit des Vergleiches impliziert. Die über die konkrete Materialität gewonnene Identität verflüchtigt sich allerdings in dem Maße wie die Verfügbarkeit des Archivierten steigt und verliert sich schließlich in Belie-bigkeit und Indifferenz. Über die Möglichkeit der Reproduktion ist - wie schon beschrieben wurde - die Emphase des Originals, die sich aus der Einzigartigkeit des Kunstwerkes rekrutiert, nicht mehr oder nicht mehr in demselben Maße wie zuvor gegeben. Eine Einspie-lung eines bestimmten Werkes unter Leitung eines bestimmten Dirigenten ist auf hunderttausenden von Schallträgern erhältlich. Wohin sich der Rezipient auch wendet, überall vermag ihm diese Einspielung zu begegnen. In der Verräumli-chung des an sich Flüchtigen ist seine virtuelle Allgegenwart gegeben. Doch nicht allein durch die Verfügbarkeit einer einzelnen Einspielung ist jene Beliebigkeit begründet, sondern gleichwohl auch durch die Existenz mehrerer Ein-spielungen desselben Werkes unter der Leitung desselben Dirigenten. Der Wert ei-ner an sich begrüßenswerten Vergleichbarkeit von Werken verliert sich aber mit einer jeden weiteren Einspielung, da mit der Zeit schließlich mehr Werkeinspie-lungen unter der Leitung einer kaum mehr zu überblickenden Anzahl Dirigenten existieren, als der Rezipient zu überblicken imstande ist. Mit einer jeden weiteren Einspielung mindert sich der Wert der einzelnen. Kataloge mit seitenlangen Auflis-tungen von Werken oder desselben Werkes machen die Auswahl zu einem schon fast akzidentiellen Verfahren. Der Rezipient beruft sich auf Kommentare in Fach-zeitschriften oder er wählt ein bestimmtes Werk von einem bestimmten Künstler, weil dieser schon immer für seine exzellenten Einspielungen bekannt ist und man selber bislang noch nicht enttäuscht wurde. Die eine oder andere, gute oder viel-leicht auch weitaus bessere Einspielung bleibt schließlich ungehört, einfach weil sie in der Unzahl von Werkangeboten untergeht. So ist es schließlich fast gleich-gültig, für welches Werk eine Entscheidung getroffen wird. So gibt es auch nicht nur eine Interpretation eines bestimmten Werkes, sondern unzählige, gleichberechtigt nebeneinander stehende. Im Nebeneinander des Vieler-lei verliert sich das Herausragende, das Einzigartige, was Baudrillard auch vom „Verschwinden der Kunst“ sprechen läßt, in dem Sinne, „daß, je mehr ästhetische Werte auf dem Markt umlaufen, die Möglichkeit zu ästhetischem Urteil (und zur Lust) immer mehr abnimmt, und daß diese Logik des Verschwindens sich genau und proportional umgekehrt verhält zu der der Kulturproduktion - daß der Xerox-punkt (le degré Xerox) der Kultur, der ihres absoluten Wucherns, dem Nullpunkt der Kunst (le degré zero) entspricht, dem des vanishing point und seiner absoluten Simulation.“2 Dieses absolute Wuchern von Kultur wird gleichsam erkennbar in der Behandlung dessen, was als das Gesamtwerk eines Künstlers gilt. Die Mög- 1 Wetzel, Michael: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, a.a.O., S. 42 2 Baudrillard, Jean: Towards the vanishing point of art. In: Rötzer, Florian/ Rogenhofer, Sara (Hg.): Kunst Machen? München 21991, S. 202