MUSIKGESCHICHTE ALS 64 TECHNIKGESCHICHTE lichkeit der Archivierung bedingt im Ergebnis eine Einstellung, die die Entschei-dung, ob ein Musikwerk aufgezeichnet werden soll oder nicht, nicht von der Quali-tät eines Werkes abhängig macht, sondern schlicht und ergreifend davon, daß es existiert. Der einzige Maßstab, der gilt, ist der, daß es von einem bestimmten Komponisten geschrieben wurde, das einzige Ziel ein Sammeln um des Sammelns willen. Unterschiedslos wird Meisterwerk und Bagatelle nebeneinandergestellt. „Polskie Nagrania bringt auf 25 Platten eine tönende Gesamtausgabe der Werke Frédéric Chopins [...] heraus. [...] Im Jahr 1966 begann die Firma Qualiton mit ei-ner Gesamtausgabe der Werke von Béla Bartók; sie soll fünfzig Platten umfas-sen.“ 1 Sicherlich wird mit dem Zugriff auf das Gesamtwerk eines Künstlers auch dessen künstlerische Entwicklung durch die Zeit hindurch verfolgbar und ein ge-naues Studiums seines Schaffens ermöglicht, doch zeichnet sich in der Möglichkeit eines solchen Studiums nur bei einer oberflächlichen Betrachtung der Wert einer Gesamtausgabe ab. Schon allein der Begriff Gesamtausgabe macht es deutlich: Die Serie soll und muß komplett sein, um einen Wert zu haben. Das Einzelne tritt zu-rück zugunsten einer Masse. Das Einzelne hat nur noch einen Wert an sich, solan-ge es sich der Archivierung und somit einer Einreihung in das Gesamtgefüge ver-schließt. Baudrillard hat dies mal mit den Worten beschrieben, daß für einen Sammler, der um die Vollständigkeit seiner Sammlung bemüht ist „ein Gegenstand nur dann einen außerordentlichen Wert erhält, wenn er nicht vorhanden ist.“2 Denn mit dem Einverleiben des letzten einer Sammlung zugehörigen Stückes hat sich die Bestimmung des Sammlers erfüllt. Das Wissen beispielsweise um ein Werk, das als verschollen gilt, macht dieses erst wertvoll. Doch bemißt sich dieser Wert gera-de auch da nicht an der Qualität des Komponierten, sondern lediglich danach, inso-fern der Zugriff verwehrt bleibt. Einmal wiederentdeckt, verflüchtigt sich dessen Wert mit einer jeden Aufnahme. Das Werkverzeichnis des Künstlers wird um eine Nichtigkeit ergänzt, die Gesamtausgabe ebenso und wird so ihrem Anspruch, Ge-samtausgabe zu sein, gerecht. Und erst in dieser Gesamtheit hat die Gesamtausga-be einen Wert. Nicht in der Vergleichbarkeit eines Schaffens oder in dem akustischen Genuß des Angebotenen spiegelt sich der Wert einer Gesamtausgabe, sondern darin, daß diese eben das gesamte Schaffen eines Künstlers darbietet. Weitergedacht wäre ei-ne Gesamtausgabe aller Gesamtausgaben eines Künstlers um ein vielfaches wert-voller, wenn auch in seiner Gebrauchsfunktion im gleichen Maße nutzloser. Der Musikrezipient wird mit dem Phonographen, der Schallplatte letztendlich zum Ar-chivar und damit dem Medium gerecht. Der Künstler leistet dem archivarischen Imperativ des Mediums gleichsam Fol-ge, indem er bei dem Verlangen nach Vollständigkeit als ausführender Interpret fungiert. „Im Laufe eines im Aufnahmestudio verbrachten Lebens wird er notwen- 1 Goslich, Siegfried: Musik im Rundfunk, a.a.O., S. 131 u. S. 135 Schließlich erfährt diese Tendenz mit den digitalen Massenspeichern ihre Fortsetzung wie Verstärkung. So ist auf einer einzigen CD-ROM „das Gesamtschaffen beispiels-weise von Johann Sebastian Bach“ zu speichern (GEMA-Brief vom 08.05.93, S. 2). 2 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Ffm 1991, S. 118