Distanzierungen „Die Objekte werden auf Distanz ge-bracht“. 1 Die Verfügbarkeit des Kunstwerkes in der Kopie macht die Einmaligkeit zu-nichte, sie dissoziiert die räumliche und zeitliche Distanz des Individuums zum Objekt, indem sie eine Nähe produziert und provoziert, also eine De-Lokalisierung des Kunstwerkes und damit auch ein Herausnehmen des Kunstwerkes aus seinem Geschichtszusammenhang betreibt. „Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks - sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. [...] Das Hier und Jetzt des Originals macht den Be-griff seiner Echtheit aus.“2 Diese Umkehrung der Verhältnisse, diese provozierte Nähe, die eigentlich eine Ferne ist, ist der Schallaufzeichnung immanent. Blau-kopf/ Sønstevold haben dieses „Phänomen“ mit dem Begriff der „negativen Aura“3 belegt; „was fernab vom Rezipienten und ohne dessen Einsicht in die Herstel-lungsweise entstanden ist, rückt in seine vertraute Nähe.“4 Durch die Loslösung des Klanges aus Raum und Zeit sind den Distributionsmöglichkeiten kaum mehr Grenzen gesetzt. Es reicht ein entsprechendes Wiedergabemedium, um den kon-servierten Klang virtuell an jedem Ort der Erde verfügbar werden und somit kon-sumierbar werden zu lassen. Das Archivierte richtet sich nunmehr an ein unendlich großes wie anonymes Publikum, dessen Reaktionen auf das Angebotene für den Komponisten nur noch mittelbar - wenn überhaupt noch - erfahrbar werden, womit für den Musikschaffenden, den Komponisten eine völlig neue, bis dahin nicht ge-kannte Situation eintritt. „Für den Komponisten [...] tritt ein völlig neues Kriterium in das Blickfeld: an wen wendet er sich, für wen schafft er Musik? Eine Frage, die es bisher in der Musikgeschichte nicht gegeben hatte. Bach und Vivaldi kannten große Teile ihrer Hörerschaft persönlich, Haydn wußte um die Vorliebe der da um ihn versammelten Aristokraten, Beethovens Kreis war keineswegs unüberblickbar, und noch Brahms hatte konkrete Vorstellungen von den Menschen, die seinem Werke lauschen würden. Das war nun mit einem Schlag anders geworden.“5 Mochten Haydn, Bach, Vivaldi und viele andere Komponisten vergangener Jahr-hunderte auch noch große Teile ihrer Hörerschaft und deren Reaktion auf ihre Mu-sik kennen, die Verschriftung ihrer Musik bedingte gleichwohl eine Ablösung ei-nes flüchtigen Gedankengutes von einem vergänglichen Körper durch ein Anver- 1 Luhmann, Niklas: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Gumbrecht, Hans-Ulrich/Link-Heer, Ursula (Hg.): Epochenschwellen und Epochen-strukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Ffm 1985, S. 21 2 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, a.a.O., S. 13/14 3 Vgl. Sønstevold, Gunnar/ Blaukopf, Kurt: Musik der einsamen Masse. Karlsruhe 1968, S. 28-31 4 Blaukopf, Kurt: Beethovens Erben in der Mediamorphose, a.a.O., S. 160 5 Pahlen, Kurt: Neue Musikgeschichte der Welt. Zürich 1978, S. 497