DISTANZIERUNGEN 67 trauen an einen materiellen, Zeiten überdauernden Träger und implizierte somit auch zu jener Zeit schon die Umkehrung des Nahen und Fernen. Es ergeben sich grundsätzlich andere Kommunikationsvoraussetzungen, die fortan eine Zeit und Raum überwindende Einwegkommunikation möglich machen. Das in Noten Fi-xierte ist virtuell an ein räumlich wie zeitlich entferntes Publikum gerichtet und al-so dem Komponisten in jeder Hinsicht fern, wie umgekehrt, die aufgeführte Musik einem Publikum ein Gedankengut nahebringt und zugleich die Distanz zum Kom-ponisten beschreibt. So „steht der Errungenschaft“, wie Reinhard Flender und Hermann Rauhe schreiben, „die Werke eines Komponisten auch nach seinem Tode neu zu entdecken und lieben zu lernen sowie weit über die Grenzen der Stadt oder des Landes, in dem er wirkt, zu verbreiten, die qualitative Verschlechterung der Kommunikation durch Entpersonalisierung und Verlangsamung des dialogischen Prozesses entgegen.“1 Wenn auch der Komponist vergangener Zeiten nicht um die Reaktion eines ihm fernen Publikums wissen konnte, so vermochte er doch das zahlenmäßig eingeschränkte Publikum seiner Zeit, für das er schrieb, einzuschät-zen und so zumindest die Reaktion auf seine Musik vorauszubestimmen: „noch Wagner konnte in Bayreuth eine Gemeinde Gleichgesinnter um sich versammeln, und auch der großen Aera Diaghilew ist dies ein wohl noch ein letztes Mal ge-glückt.“ 2 Das Wissen um die Reaktion eines Publikums und/oder das Wissen um ein bestimmtes Publikum überhaupt gibt es heute nun nicht mehr, wendet sich der Komponist doch grundsätzlich an ein anonyme, nicht mehr überschaubare Hörer-schaft, was Kaegi denn auch fragen läßt: „An wen aber wendet sich der heutige Komponist?“3 Was sich hier als negative Begleiterscheinung von Archivierungsmedien er-scheint, die fortschreitende Tendenz zur Anonymisierung, zeitigt gleichwohl auch positive Effekte: Der Komponist wendet sich an ein ihm fernstehendes Publikum, auf das hin nun die eigene Musik konzipiert wird. Nicht mehr die Erwartungshal-tungen einer bekannten Zuhörerschaft werden bedient, sondern, losgelöst davon, kann die Musik Grenzen überschreiten, ohne zugleich durch ein unmittelbar rea-gierendes Publikum Grenzen gesetzt zu bekommen. Das Publikum ist auf der einen Seite auf Distanz gesetzt, wodurch es allerdings auf der anderen Seite es der Musik ermöglicht ist, die Distanz zum Komponisten zu minimieren, indem dieser, von unliebsamen Reaktionen verschont bleibend, Rücksichtnahmen auf Geschmacks-konventionen nicht zu leisten sich verpflichtet sieht und nur der eigenen Kritik sich zu verantworten hat. Diese ist fraglos nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Kon-text bzw. Geschmack, doch stehen durch dieses neue ermöglichte Kommunikati-onsverhältnis musikalische Grenzerweiterungen zu vermuten, die vielleicht erst ei-nem zeitlich distanzierten Publikum sich erschließen. Eine implizit allein durch den Akt der Archivierung auf Distanz hin komponierte Musik mag so zuletzt auch dem Komponisten in Teilen fremd bleiben, so sehr auch um die Notwendigkeit der gestalteten Musik, wie sie ist, gewußt ist. So entstehen Musikwerke, die distanziert 1 Flender, Reinhard/ Rauhe, Hermann: Popmusik. Darmstadt 1989, S. 62 2 Kaegi, Werner: Was ist elektronische Musik. Zürich 1967, S. 29 3 Ebd., S. 29