DISTANZIERUNGEN 69 rer übt durch die Veränderung der Kommunikationsverhältnisse keinerlei unmit-telbare Wirkung mehr auf das musikalische Signal aus, was Ergebnis jener von Blaukopf/Sønstevold konstatierten „negativen Aura“, jener Umkehrung der Ver-hältnisse des Nahen und des Fernen, ist. Die Nähe eines Hörers zu einer technisch dargebotenen und von ihm rezipierten Musik bedingt umgekehrt die Ferne zu den Musikschaffenden und Komponisten. Die Möglichkeit einer Zweiwegkommunikation im Konzert bleibt im Zeitalter der Reproduktion zwar nach wie vor bestehen, doch kommt ihr nicht mehr jene Bedeutung zu, die sie ehedem hatte, da nicht mehr die Reaktion eines Konzertpub-likums1 Maßstab für den Erfolg oder Mißerfolg eines Werkes ist, sondern die zeit-versetzt erfolgende einer anonym bleibenden Käufer- und Hörerschicht von Schall-trägern. So spricht Glenn Gould schon im Jahre 1966 davon, daß die gegenwärtige Generation die letzte sein wird, „die es fertigbringt, in ihrer Mehrheit davon über-zeugt zu sein, daß das Konzert die Achse ist, um die die Welt der Musik sich dreht.“2 Mit einer jeden Produktion von Schallträgern ist also die Zustimmung für das musikalische Werk und/oder kommerzielle Produkt antizipiert, wobei die An-nahme zur Annahme eines Produktes sich auf immer wieder als falsch erweisenden Prognosen gründet. „Trotzdem bleibt die Popularität für Hörer und Macher gleich-zeitig ein Rätsel. Denn bei aller Manipulierbarkeit des Marktes erlebt die Schall-plattenindustrie immer wieder Überraschungen. Auch die besten Marktanalysen können keine handfesten Prognosen geben, welcher Interpret sich mit welchem Repertoire am schnellsten durchsetzt. [...]. Die Schallplattenindustrie hat es längst aufgegeben, Prognosen zu wagen. Man arbeitet nach dem altbewährten Prinzip von trial and error.“3 Wo keine unmittelbar erfolgende wechselseitige Kommunikation statthat, sollen Marktanalysen und Prognosen an deren Stelle treten. Diese aber er-weisen sich aber in großen Teilen als untauglich. Ihre hohe Fehlbarkeit läßt sie als geeignetes Substitutionsinstrument einer nicht mehr in jedem Falle gewährleisteten Zweiwegkommunikation ungeeignet erscheinen, so daß zuletzt das Wechselspiel zwischen Aufführendem und Rezipientem zu ersetzen gesucht wird durch das ein-zige Mittel, was zur Geschmacksergründung noch bleibt: Den Test. Die Notwendigkeit zum Test läßt eines deutlich werden: „Rezeptorische Ein-bahnstraßen“ bedingende Distributionsmedien haben zur Folge differenzierte Mu-siklebenswelten, die mit Musikkonventionen radikal brechen und sich nicht vo-rausbedenken lassen. Ein gesellschaftlich kanonisiertes Musikideal ist nicht auf-rechtzuerhalten, denn als solches operiert dieses eher konservativ wie direktiv, als daß es Einzelbedürfnissen entspricht. Achsenverlagerung vom kostenintensiven Konzert zum günstigen Massenmedium Schallplatte führt zur Demokratisierung des individuellen Geschmacks. Eine dem reproduzierten Kunstwerk anhaftende und eher pejorative Konnotationen implizierende „negative Aura“ bedingt folglich 1 Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um ein klassisches Konzert oder um ein Rock- /Popkonzert handelt. Die medialen Konsequenzen bleiben für die sogenannte ‘E’- und ‘U’- Musik gleich. 2 Gould, Glenn: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, a.a.O., S. 131 3 Flender, Reinhard/ Rauhe, Hermann: Popmusik, a.a.O., S. 59/60