Von der Tonkunst zur Musik „Man muß um jeden Preis den engen Kreis des reinen Klanges sprengen und die un-endliche Vielfalt des Geräuschklanges er-obern. [...] Wir sind sicher, daß wir durch Auswahl, Koordinierung und Beherr-schung aller Geräusche die Menschen um eine neue, ungeahnte Wollust bereichern können. Obwohl die Eigenart des Geräu-sches darin besteht, uns brutal ins Leben zu versetzen, darf sich die Geräuschkunst nie auf eine imitative Wiederholung des Le-bens beschränken.“1 Die Möglichkeit, Reales und nicht mehr nur Symbolisches aufzeichnen zu kön-nen, bleibt nicht ohne Einfluß auf das Schaffen der Komponisten. Es werden neue Formen der Klanggestaltung denkbar, weil machbar. Komponisten, welche weiter-hin dem symbolischen Notationssystem vertrauen, beginnen nunmehr selbst inner-halb des Regelkreises der symbolischen Notation vom Medium Schallplatte inspi-rierte, musikalische Ereignisse zu komponieren. So werden beispielsweise Instru-mentierungen auskomponiert, welche in der Vorzeit der Schallaufzeichnung unge-schrieben geblieben sind. Kompositionen, die volumenarme Instrumente als Solo-instrumente vorsehen, während gleichzeitig das ganze Orchester deren Soloeinla-gen begleiten, sind erst im einem Zeitalter zu fordern, in dem eine instrumenten-spezifische fehlende Durchsetzungsfähigkeit technisch geleistet werden kann. „Ein naheliegendes Beispiel: Frank Martins Petite symphonie concertante, die - mit Harfe, Cembalo und Klavier als Solokräften gegen ein Tutti von Streichern - Sono-ritäten offeriert, die, so wie sie in einem öffentlichen Konzert dargeboten werden, für immer unbefriedigend sein werden, wenn sie einmal in einer technisch [...] herrlich umgesetzten Aufnahme [...] gehört worden sind.“2 Das angeführte Beispiel offenbart noch eine weitere Konsequenz aufgezeichneter Musik. Mit der techni-schen Verbesserung der Aufzeichnungsmedien verlagert sich das Interesse vom Konzertsaal weg, hin zum Tonstudio. Nur durch die Möglichkeit der technischen Nachbesserung können Instrumente an sie gestellte, kompositionsbedingte Anfor-derungen erfüllen, die im Zeitalter der rein konzertanten Aufführung nicht leistbar gewesen wären. Eine Komposition wie die von Glenn Gould angeführte zielt also von vornherein auf ihre technische Realisation ab. Indem das musikalische Werk nicht mehr primär auf seine konzertante Aufführung ausgerichtet ist, ist diese ihrer dominierenden, absoluten Stellung verlustig geworden. So ist es auch verständlich, daß bei der Entwicklung und Konstruktion mancher neuer Konzerthalle nicht auf 1 Russolo, Luigi: Die Kunst der Geräusche. In: Kuhn, Robert/Kreutz, Bernd (Hg.): Das Buch vom Hören. Freiburg im Breisgau 1991, S. 156f. 2 Gould, Glenn: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, a.a.O., S. 148