MUSIKGESCHICHTE ALS 72 TECHNIKGESCHICHTE die für den Konzertbesucher bestmögliche Raumakustik des zukünftigen Konzert-saales abgehoben wird, sondern primär die Aufzeichnungsbedingungen für zukünf-tige Konzertmitschnitte im Vordergrund stehen, hinter denen das unmittelbare Klangereignis zurückstehen muß. So nennt Glenn Gould die Philharmonic Hall des Lincoln Centers und die Royal Festival Hall als Beispiel, welche „schlicht Eigenar-ten des Tonstudios übernommen (haben), die die Aufnahmefähigkeit des Mikro-phons steigern sollten, deren spezieller Vorzug aber im Konzertsaal zum Nachteil wird.“1 Das Tonstudio hält Möglichkeiten der Klangbearbeitung und -veredelung bereit, die der Konzertsaal nicht bieten kann. Bernhard Rzehulka verweist darauf, daß es wenig Sinn macht, das konzertante Klangereignis im Tonstudio nachbilden zu wollen, um eine möglichst originale Nachbildung zu schaffen. Vielmehr kommt es darauf an, gerade die Differenz zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Er-eignissen zu betonen und festzuschreiben. Jene für Rzehulka unauflösbare Diffe-renz liegt in dem das mehrere Sinne ansprechenden Ereignis des Konzertes be-gründet, wohingegen das aufgezeichnete Signal bei der Wiedergabe lediglich einen Sinn zu aktivieren vermag. Es geht also nicht darum, eine vermeintliche Identität zwischen beiden Ereignissen herstellen zu wollen, sondern im Gegenteil - durch die Möglichkeit der differenzierten nachträglichen Bearbeitung eines aufgezeich-neten Signals - dem musikalischen Werk Aspekte abzugewinnen, welche dem Konzert nicht möglich sind zu realisieren und die ein ganz neue Sicht auf das Mu-sikwerk erlauben. Damit hat aber der Konzertsaal - so Rzehulka - „als unumstößliches Maß aller Dinge [...] als Vorbild ausgedient, als man begriff, daß durch die Technik Perspek-tiven eines musikalischen Werkes hörbar gemacht werden konnten, die die reale Aufführung sich notwendigerweise versagen muß.“2 Die beliebige Verfügbarkeit des Schallträgers bringt es mit sich, daß die Vorstellung beim Hörer davon wie Musik zu klingen hat, zunehmend über das Rezipieren von Schallplatten gewonnen wird, so daß Schallplattenaufzeichnungen zum Maßstab für Werkinterpretationen geworden sind, an denen auch das konzertante Ereignis gemessen und verglichen wird. Nicht länger das konzertante Ereignis ist Vorbild für eine mögliche Auf-zeichnung, sondern umgekehrt, die im Konzert aufgeführte Musik soll möglichst so klingen wie die auf der Schallplatte unter Studiobedingungen aufgezeichnete. Diese Umkehrung der Verhältnisse hat also nicht zuletzt darin ihre Begründung, daß in einem viel größeren Maße schallaufgezeichnete Musikereignisse rezipiert werden als Konzertereignisse. „Ob wir es anerkennen oder nicht, die Langspiel-platte verkörpert mittlerweile geradezu die Realität der Musik“3, was für den Ton-träger der Jetztzeit - der CD - in einem noch weitaus größeren Maße zutrifft, bietet diese doch ein weitaus differenzierteres Klangereignis, als es der Schallplatte zu leisten möglich war. Das Konzertereignis selbst kann hinter jenen archivierten 1 Ebd., S. 132 2 Rzehulka, Bernhard: Abbild oder produktive Distanz. In: Fischer, Matthias/ Holland, Dietmar/ Rzehulka, Bernhard: Gehörgänge, a.a.O., S. 88 3 Aus einem Papier der Abteilung Musikwissenschaft von der Universität Toronto, zi-tiert nach Glenn Gould: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, a.a.O., S. 130