VON DER TONKUNST ZUR MUSIK 73 Klangereignissen nur zurückstehen. Der Konzertsaal bietet also eine Möglichkeit der Werkinterpretation, welche allerdings weitgehend von den die Raumakustik bestimmenden, räumlichen Gege-benheiten vorab determiniert ist. Ein besonders halliger Raum legt beispielsweise, um die Durchsichtigkeit des Werkes zu wahren, von vornherein ein langsames Tempo fest, wohingegen ein besonders trocken klingender Raum, ein schnelleres Tempo zuläßt. Mit der Schallaufzeichnung wird nun eine weitere Interpretations-möglichkeit hinzugefügt, die nicht mehr von den räumlichen Gegebenheiten ab-hängig ist und eine dem Werk angemessenere Umsetzung realisieren läßt.1 Am Beispiel Gustav Mahlers, dessen „Symphonien [...] - in höherem Maße als die meisten Werke seiner Zeitgenossen - raumabhängig“2 sind, dokumentiert Kurt Blaukopf die Vorzüge einer Schallaufzeichnung gegenüber einer Konzertsaalauf-führung. „Zahllose Passagen in den Symphonien Mahlers werden in akustisch un-geeigneten Sälen auch dann entstellt, wenn Dirigent und Orchester sich peinlich genau an die Weisungen der Partituren halten. Im Konzertsaal des neunzehnten Jahrhunderts (Typus Gewandhaus in Leipzig, Musikverein in Wien) kämpfen bei Mahler-Symphonien die Streicher oft minutenlang vergeblich gegen das entfesselte Blech an, um die Deutlichkeit ihrer Stimmen zu wahren, während die gewünschte Balance in manchen modernen Sälen (Royal Festival Hall in London oder Stuttgar-ter Liederhalle) leichter zu erzielen ist. Jeder Aufführung einer Symphonie Mahlers müßte demnach die anpassende Klangregie vorausgehen, wenn Mahlers Polypho-nie, Mahlers Homophonie und Mahlers Klangkoloristik unversehrt gewahrt blei-ben sollen.“3 Eine Musik, die im Zeitalter der Schallaufzeichnung komponiert ist, verlangt auch nach medientechnischer Realisation, indem sie die der Klangarchi-vierung immanente Möglichkeiten implizit berücksichtigt, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Komposition gar nicht auf eine medientechnische Realisation ab-zielt. In Mahlers Musik ist die Vorwegnahme technisch realisierter Musik gegeben. So ist Mahlers Aussage von seiner Zeit, die „noch kommen würde“ gleichsam ein Versprechen auf die Zukunft der Schallaufzeichnung, selbst wenn Mahler - wie Blaukopf es beschreibt - nicht an die zukünftigen Möglichkeiten einer technisch realisierten Aufnahmetechnik dachte. „Doch alles, was er als Komponist geschaf-fen hat, verlangt nach elektroakustischer Realisierung, nach Unabhängigkeit vom einmal gegebenen Klangraum, nach freier Verfügbarkeit aller technischen Mittel.“4 Die Schallaufzeichnung bietet die Möglichkeit, Werke neu und anders zu interpre-tieren wie gleichwohl die Möglichkeit, Komponistenforderungen besser Folge leis-ten zu können. Wagners ‘Götterdämmerung’ möge hier als Beispiel dienen. So be-richtet der Schallplattenproduzent John Culshaw von Wagners Anweisung zu Be-ginn des 2. Aktes, daß Alberichs Stimme in jener Szene nach und nach ‘unver-nehmbarer’ werden solle, was tontechnische Überblendungseffekte realisieren hel- 1 Vgl. Rzehulka, Bernhard: Abbild oder produktive Distanz. In: Fischer, Matthias/ Hol-land, Dietmar/ Rzehulka, Bernhard: Gehörgänge, a.a.O., S. 93 2 Blaukopf, Kurt: Gustav Mahler oder der Zeitgenosse der Zukunft. Kassel 1989, S. 272 3 Ebd., S. 273 4 Ebd., S. 274