VON DER TONKUNST ZUR MUSIK 75 Wenn Wagner - wie Kittler es beschreibt - im Rheingoldvorspiel den Eb-Dur Dreiklang in der Hornmelodie gemäß der Obertonreihe mit Ausnahme der siebten bis zur achten Harmonischen auflöst1, so zeigt sich ein nicht mehr ausschließlich dem traditionellen Harmonieverständnis verpflichtetes Denken, sondern eines, welches die Gesetzmäßigkeiten der Akustik für Kompositionen erschließt und als integralen Bestandteil von Kompositionen behandelt.2 So plausibel die Argumenta-tion Kittlers zunächst auch sein mag, so gründet sie (leider) doch auf einer wenig einsichtigen Analyse des Werkes. Nicht nur fehlt der siebte Teilton, dessen Fehlen noch einleuchtend erklärt ist, sondern gleichwohl auch der erste3, was die Argu-mentation Kittlers zwar nicht völlig gegenstandslos macht, doch wird das spekula-tive Moment darin in dem Maße größer wie die vermutete Obertonreihe unvoll-ständiger wird. 1 Wagner: Rheingold Vorspiel und erste Szene. Takt 17ff., hier: Auszug aus der Kla-vierpartitur 2 Vgl. Kittler, Friedrich, A.: Grammophon, Film, Typewriter, a.a.O., S. 40f. 3 Dem ersten Partialton eb müßte - eine Oktave versetzt - bekanntlich wieder ein eb fol-gen und dann erst die Töne g, e, g, b etc.. In der beschriebenen Hornmelodie folgt dem ersten Ton eb aber gleich das g. Es hilft auch nicht, den zeitgleich mit der Hornmelo-die erklingenden, tiefergelegenen Ton eb als 1 Teilton zu interpretieren, da zwischen diesen beiden Tönen noch der Ton b liegt, der überhaupt nicht mehr in die Obertonrei-heargumentation paßt. Sicher ist es verblüffend, daß, läßt man einmal den fehlenden ersten Partialton außen vor, die nachfolgenden Töne von Wagner tatsächlich in der Reihenfolge einer natürlichen Obertonreihe in das Werk einkomponiert sind, doch löst man sich wieder von dem Gedanken der (letztendlich doch nicht so eindeutig erkenn-baren) Obertonreihe und den daraus gezogenen Folgerungen, so bilden jene Töne das Ton-Material für einen ganz normalen Eb-Dur-Dreiklang, was das Material auch ganz traditionell bewerten läßt. Obertonreihe auf eb bis zum 8. Partialton Wagners Tonmaterial fehlt fehlt Zwar bezieht sich Kittler auf die Orchesterpartitur und dort auf die Hornmelodie und führt den entsprechenden Partiturauszug als Beleg für seine Argumentation an, doch ist auch diesem Orchesterpartiturausschnitt der der Argumentation zufolge notwendige erste Ton nicht zu entnehmen.