MUSIKGESCHICHTE ALS 76 TECHNIKGESCHICHTE Mit der Inaugurierung des Mediums Phonograph ist allerdings nun tatsächlich eine immer schneller fortschreitende Zersetzung und Auflösung des tonalen Sys-tems beobachtbar. Nicht mehr ausschließlich Harmonien und Akkorde, also Inter-vallverhältnisse, sondern gleichwohl Frequenzgemische und das Wissen um die Physik der Klänge sind fortan des Komponisten Handwerkzeug. In der elektronischen Musik endlich, die mit dem reinen, obertonfreien Sinuston als Basismaterial erstmals die Generierung intervallfreier, vorherbestimmbarer Tongemische zuläßt, ist ein Denken in Intervallen und Akkorden endgültig obsolet geworden. Das Wissen um die Physik der Klänge ist Grundlage für die Gestaltung einer auf elektronischem Wege realisierten Musik. „In der elektronischen Musik hat eine starke Durchdringung von Akustik und Musik stattgefunden. Akustik als Lehre vom Schall und seinen Wirkungen vermittelt unerläßliche Kenntnisse der materialen Grundlagen. [...] Sämtliche theoretischen Grundbegriffe der elektroni-schen Musik, die das klingende Material angehen, entstammen der Terminologie der Akustik; dazu kommen die Begriffe der Elektroakustik, zu der die Aufnahme-und Wiedergabeverfahren gehören“.1 So wird Menschenphantasie von technischer Entwicklung beflügelt wie gleichwohl determiniert. Am Beispiel des Mediums Schrift hat Flusser gezeigt, daß mit der Veränderung eines einzelnen Aspektes an der Struktur der Schrift sich unsere Seinsweise in der Welt verändert. Ob wir bei-spielsweise von links nach rechts schreiben oder von oben nach unten oder umge-kehrt ist gleichbedeutend damit, anders zu denken und eine andere Vorstellung von der Welt zu haben. Die Struktur der Schrift ist ihr von akzidentiellen Faktoren, „wie den Widerstand der Tontafel gegen den zugespitzten Stab, die Konvention des lateinischen Alphabets und den Zuschnitt des Papiers in Form von Blättern aufgezwungen.“2 Das Material, das wir für Aufzeichnungen nutzen, zeichnet also ebenso für die Art und Weise, wie wir denken verantwortlich, wie auch das für das Archivieren von Gedanken gebräuchliche Zeichensystem. Was Flusser für die Ges-te des Schreibens herausgearbeitet hat, gilt gleichwohl auch für die Geste des No-tenschreibens. Die Konvention der Notenschrift, die Geste des Notenschreibens, determinierte über Jahrhunderte die Denkweise von Komponisten über Musik. „Es gibt kein Denken, das nicht durch eine Geste artikuliert würde. Das Denken vor der Artikulation ist nur eine Virtualität, also nichts. Es realisiert sich durch die Geste hindurch.“3 Die Geste des Noten- oder Musikniederschreibens ist also keine neut-rale Geste, die Komponisten lediglich hilft, ihre Vorstellungen über Musik zu rea-lisieren. Bevor Musik überhaupt gedacht und dann niedergeschrieben - ausge-drückt und eingeschrieben in das Notenpapier (inskribiert) - werden kann, wird diese in eine Form gebracht, das heißt, das über Jahrhunderte angehäufte, Konnota-tionen implizierende Regelsystem steht noch vor dem Denken. „Streng genommen kann man nicht denken, ehe man Gesten macht.“4 Versucht der Komponist, Töne zu Klängen zu formen, einer inneren Vorstellung einer musikalischen Struktur 1 Humpert, Hans Ulrich: Elektronische Musik. Mainz 1987, S. 12/13 2 Flusser, Vilém: Gesten, a.a.O., S. 41 3 Ebd., S. 47 4 Ebd., S. 47