VON DER TONKUNST ZUR MUSIK 77 Ausdruck zu verleihen, so ist jene Struktur Ergebnis der Geste des Noten- oder Musikniederschreibens, auch ohne daß der Prozeß des Inskribierens vollzogen werden muß. Es gibt also keine freie Wahl beim Komponieren von Musik. Es gibt lediglich ein Gestalten innerhalb der vom Medium gesetzten Grenzen. Flusser spricht auch davon, daß eine Virtualität (in diesem Fall das Bedürfnis, sich musika-lisch auszudrücken) durch die unterschiedlichsten Hindernisse hindurch sich aus-zudrücken versucht und diese Hindernisse „ihr bestimmte Strukturen aufzwin-gen.“ 1 Die Entwicklung der Aufzeichnungsmedien stellt eine Revolutionierung im Mu-sik- Inskribieren dar. Die Delegierung der „In-Skribierung“ an eine Maschine ge-stattet es zunächst einmal, schneller als der Mensch es vermag zu schreiben und, was ebenso wichtig ist, festgehaltene Informationen schneller zu lesen. Durch die Möglichkeit, mehr Informationen in der Zeit unterzubringen, ist es mit jener Dele-gierung erlaubt, die Komplexität des musikalischen Regelsystems zu steigern. Die maschinengemäße „In-Skribierung“ gestattet es, die Regeln des musikalischen Systems zu überschreiten und zu verändern. Die Auflösung der tonalen Ordnung ist somit Ergebnis jener Automatisierung des nicht mehr Noten-, sondern Töne, oder besser Schwingungen- Schreibens und beschreibt somit den Beginn eines Zeitalters, das Komponisten das Geräusch als musikalische Qualität entdecken und gezielt in Kompositionen einbinden läßt. Die künstlerische Emanzipation des Geräusches sich zum Ziel setzende Strö-mung wie die der elektronischen Musik hat nach Prieberg in den ersten zwei Jahr-zehnten dieses Jahrhunderts ihren Anfang genommen2 - zu einem Zeitpunkt also, als mit der Schellackschallplatte zum ersten Mal ein Medium zur Verfügung stand, das auch respektable akustische Ergebnisse zu liefern vermochte. Die Entdeckung und Entwicklung einer neuen Klangästhetik ist somit gebunden an technische Entwicklungen, die für sich zunächst einmal keine musikalischen Zwecke verfolgen müssen3, gleichwohl aber die Rahmenvoraussetzungen für eine neue musikalische Klangästhetik stellen und andere Formen von Kompositionen erst denkbar werden lassen. Die zu Beginn des Jahrhunderts allerorten festzustellenden Bemühungen vieler Komponisten, das musikalische Gerüst der Töne aufzubrechen und unabhängig voneinander nach einem neuen musikalischen Ausdruck zu streben, führt Prieberg zu der Feststellung: „Das lag in der Luft“.4 Es zeigt sich nun, daß jenen atmosphä-rischen Strömungen eine ganz konkrete Materialität zugrundeliegt. Es ist die Mate-rialität des Phonographen! Konsequent beschrieben ist jene neue Klangästhetik in Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst.5 In der Aufteilung der Klänge in Intervalle war für 1 Ebd., S. 44 2 Vgl. Prieberg, Fred. K.: Musica ex machina, a.a.O., S. 60 3 Es sei noch einmal an die Ursprungsidee, die dem Phonographen zugrundelag, näm-lich Anrufbeantworter oder Diktiergerät zu sein, erinnert. 4 Prieberg, Fred K.: Musica ex machina, a.a.O., S. 29 5 Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Wiesbaden 1954