MUSIKGESCHICHTE ALS 80 TECHNIKGESCHICHTE unvollständig. Die Dichte der Informationen einer Geräuschmusik macht ihre Nie-derschrift unsinnig, selbst wenn diese Niederschrift in dem ein oder anderen Falle leistbar wäre, da kein Menschenhirn diese Fülle von Informationen bei einer Auf-führung verarbeiten könnte. „Geräusche haben eine derart komplizierte ‘spektrale’ Zusammensetzung, daß eine solche Aufzeichnung mehr verwirren als nützen wür-de.“ 1 Die traditionelle Notenschrift ist für eine Geräuschmusik nicht mehr tauglich, so daß mit dem Fehlen einer Partitur, diesem - nach Prieberg - ohnehin zu primiti-ven Werkzeug2, auch die Interpretation eines einmal geschaffenen Werkes durch einen Künstler zwangsläufig entfällt. Doch, was Menschenmöglichkeiten über-steigt und nur noch zu Verwirrungen führt, ist dem Phonographen und seinen Nachfolgern aufgrund ihrer immanenten Verständnislosigkeit ein Leichtes. Sie hö-ren und zeichnen auf, ohne zu verstehen und geben wieder, ohne zu interpretieren: Was der Phonograph schreibt, das liest er auch mit derselben Geschwindigkeit und Genauigkeit und bleibt dabei unbeeindruckt von dem Geschriebenen. „Daß der Phonograph nicht denkt, ist seine Ermöglichung.“3 Das neue Notationsmedium schreibt in einer Schrift, die nur es selber wieder le-sen kann und es kann das Eingeschriebene nur deshalb genauso wiedergeben wie es aufgezeichnet wurde, weil es prinzipiell gedankenlos ist. Während noch der Komponist Michel Brusselmans lediglich eine 1928 erschie-nene Schallplatte mit Flugzeuggeräuschen in eine seiner Komposition einbaute,4 verzichtet Pierre Schaeffer, Mit-Begründer der „musique concrète“, vollends zu-gunsten von Archivierungsmedien sowohl auf das traditionelle Notationsmedium zum Zwecke der Wiederaufführung als auch auf den traditionellen Klangkörper. Er macht sich die Gedankenlosigkeit des neuen Mediums zunutze und komponiert Musik, die als die erste gilt, „die ausschließlich in ‘gespeicherter’ Form existierte und nur über Tonträger (Schallplatte, Tonband) abgespielt (= aufgeführt) werden konnte.“5 Die Voraussetzungen für eine traditionelle „In-Skribierung“ sind entfal-len. „Die Aufzeichnung der kompositorischen Gedanken ist nur so lange nötig, wie es ‘Ausführende’ gibt.“6 Mit Hilfe mehrerer Plattengeräte begann Schaeffer 1948 Geräusche zu manipu-lieren und in der Zeit zu organisieren. Zu Beginn seiner Experimentierzeit griff er dabei auf das Plattenarchiv des französischen Rundfunks zurück.7 Dabei schuf er erstmals Klangeffekte, die vordem nicht zu erzielen gewesen waren: Eine exakte Wiederholung von Geräuschereignissen in der Zeit wurde möglich, was also einem Ostinato gleichkam. Realisiert wurden diese Geräusch-Ostinati, indem der Tonarm eines Schallplattenspielers sich in einer Endlosrille einer Platte bewegte und immer wieder dieselben Klangereignisse abtastete. „Auffallend an diesen frühen Stücken 1 Prieberg, a.a.O.: Musica ex machina, a.a.O., S. 67 2 Vgl. ebd., S. 65 3 Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, a.a.O., S. 57 4 Vgl. Goslich, Siegfried: Musik im Rundfunk, a.a.O., S. 132 5 Humpert, Hans Ulrich: Elektronische Musik, a.a.O., S. 23 6 Prieberg, Fred K.: Musica ex machina, a.a.O., S. 67 7 Vgl. Goslich, Siegfried: Musik im Rundfunk, a.a.O., S. 136