SOFTWAREINDIVIDUATIONEN 97 Ergebnis einer - wie Alan Turing es nennt - „Selbstmodifikation“. „Wann immer der Inhalt dieses Speichers durch interne Operationen der Maschine geändert wur-de, kann man natürlich sagen, daß die Maschine ‘sich selbst modifiziert’“.1 Indem ein Computer bei der Durchführung einer Operation die Regeln einer Transforma-tion ändert, arbeitet er rückbezüglich oder selbstreferentiell und erlangt so Auto-nomie. 2 Scheinbar unscheinbare Sprunganweisungen machen die Qualität von Compu-terprogrammen aus, machen aus passiven Automaten, deren Ergebnisse vorherseh-bar sind, aktive Mitgestalter, welche sich signifikant mit in den Gestaltungsprozeß mit einbringen. „Was ist gerade an der Sprung- oder GOTO-Anweisung so Beson-deres?“ 3, fragt so auch Jörn Eggeling, und die Frage beantwortet sich dahingehend, daß Sprungverzweigungen ermöglichende Programmroutinen Computerprogram-me zur maßgeblichen Entscheidungsinstanz und so aus einem jeden Ergebnis po-tentiell immer ein unberechenbares machen. Sicher, der Programmierer legt die Bedingungen fest, unter denen bestimmte Ope-rationen ausgeführt werden sollen. Doch sind die Verflechtungen der einzelnen Programmroutinen in komplexen Programmen so dicht geknüpft, daß die inneren Zustände, die als Resultate abgearbeiteter Computeralgorithmen schließlich vorlie-gen, sich so vielgestaltig ausnehmen können, daß sie im einzelnen überhaupt nicht vorauskalkulierbar und damit unbekannt sind. Eine Idee programmatisch umzuset-zen heißt also noch lange nicht, alle ihre zukünftig möglichen Ergebnisse zu ken-nen. „Ein großes Programm ist, um eine Analogie zu verwenden, [...], ein kompli-ziert geknüpftes Netzwerk von gerichtlichen Instanzen, d.h. von Unterprogram-men, denen das Beweismaterial von anderen Unterprogrammen übermittelt wird. Diese Instanzen ‘würdigen’ die zugeführten Daten und übermitteln ihr Urteil wie-derum weiteren Instanzen. Die von diesen Instanzen gefällten Urteile können - und tatsächlich tun sie dies oft auch - Entscheidungen darüber enthalten, welche In-stanz die ‘Rechtsprechung’ über die Zwischenergebnisse hat, die dann weiterver-arbeitet werden. Somit kann der Programmierer nicht einmal den Weg der Ent-scheidungsfindung in seinem eigenen Programm kennen, geschweige denn wissen, welche Zwischen- oder Endergebnisse es hervorbringen wird.“4 1 Turing, Alan: Intelligence Service, a.a.O., S. 96 2 Vgl. Segal, Lynn: Das 18. Kamel oder die Welt als Erfindung, a.a.O., S. 153 3 Eggeling, Jörn: GOTO - REPEAT UNTIL. In: Michel, Karl Markus/ Spengler, Til-mann (Hg.): Kursbuch 75. Computerkultur. Berlin 1984, S. 81 4 Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Ffm 81990, S. 308