Verfehlte Individuation „Eine der ersten Lektionen, die junge In-formatik- Studenten zu lernen haben, lautet heute: Es wird nie ein komplexes, fehler-freies Programm geben.“1 Ein jedes Programm, das in irgendeiner Form für musikalische Zwecke gedacht ist, ist nie ausschließlich nur passives Werkzeug, sondern immer auch Mit-Initiator oder - wenn man so will - gleichberechtigter Mit-Urheber und mitentscheidende Instanz, wenn es darum geht, Menschenideen irgendwelcher Art musikalische Ge-stalt zu verleihen. Diese Aussage gilt auch dann uneingeschränkt, wenn von einem Programm ein vollkommen triviales Verhalten abverlangt wird, wie es beispiels-weise beim schlichten Umschalten von einem Programmspeicher auf den anderen erwartet wird. Selbst wenn also innerhalb eines Programmes in ganz bestimmten Bereichen ein triviales Verhalten an den Tag gelegt werden soll, kann von einer Subjektwerdung von Programmen gesprochen werden. Das hat seine Ursache darin, daß komplexe Programme immer mit Fehlern be-haftet sind, gleichgültig wie einwandfrei und scheinbar fehlerfrei manches Pro-gramm auch zu funktionieren scheint. Reine zur Aufzeichnung von (Musik-)Daten gedachte Sequencerprogramme beispielsweise schreiben sich - infolge einer nicht aufhebbaren Differenz zum nur in der Theorie möglichen ideal formalisierten Al-gorithmus - immer wieder mit in die Komposition ein und verhalten sich zuweilen dabei mitunter so eigeninitiativ, daß sie auf bestimmte Befehlsfolgen nicht die er-warteten Ergebnisse liefern, sondern vielleicht lediglich ihre eigene Immaterialität bezeugen und einen leeren Bildschirm hinterlassen. Das sich so unerwartet Ereig-nende ist dann Ausdruck einer Programmkomplexität, die ein unbedingtes Funkti-onieren im Sinne des Programmierers ausschließt. Die vielfältigen möglichen, in ihrer Gesamtheit nicht mehr zu überschauenden Betriebszustände verleihen sich eben aus diesem Grunde allzu häufig auch in Endlosschleifen oder kompletten Systemabstürzen Ausdruck. Ein hochwertiges, bis vor kurzem noch marktführendes Sequencerprogramm zeichnete sich in der Programmversion 3.0 im wesentlichen dadurch aus, daß es selbst bei einfachen Operationen aus für den Anwender völlig undurchsichtigen Gründen manchmal Noten löschte, gar neue in die Komposition einfügte oder zu-weilen auch im Noteneditor endlose Ketten von Sechszehntelpausen kreierte oder vielleicht gleich ganz abstürzte. Unverfänglich scheinende Operationen wie das Aufrufen des Noteneditors oder das Verschieben einzelner Noten konnten so man-nigfaltige wie unliebsame Veränderungen an der Komposition zur Folge haben. Warum manche Operation zuweilen mehrere Male wunschgemäß funktionierte, dann aber nach dem x-ten Male ganz andere als die gewünschten Effekte zeitigte, 1 Thomsen, Claas: Die Computerisierung der Lebenswelt: Entwicklung, Erfolge, Proble-me. In: Weizenbaum, Joseph/Haefner: Sind Computer die besseren Menschen? Ein Streitgespräch, hrsg. von Michael Haller. München 1992, S. 44