VERFEHLTE INDIVIDUATION 101 me, sowie deren Eingebundensein in systemübergreifende Netzwerke die Un-durchschaubarkeit von Befehlsflüssen weiter nicht-linear multipliziert und „Über-raschungen“ auch für den bereithält, der als Programmierer sich davor gefeit glaubt. Je komplexer ein Programm wird, um so undurchsichtiger werden die Bedin-gungen für ein bestimmtes Handeln und um so selbständig agierender wird dieses auch. So mag es sein, daß ein bestimmter treibender sequencergesteuerter Schlag-zeug- Rhythmus seine Ursache nicht in einer besonderen Quantisierung, sondern vielmehr in einer nicht bedachten Programmverzweigung hat. Solche sich selbst in Szene setzende Algorithmen sind schlicht das Resultat dessen, daß „1-2 Mannjah-re Programming [...] sich schlechterdings nicht mehr lesen“1 lassen. Auch kom-mentierte Programmlistings gewährleisten nicht mehr die Lesefähigkeit der Pro-grammierer. Eingriffe in bestehende Programmstrukturen oder Veränderungen und Erweiterungen vorzunehmen, heißt dann nichts anderes mehr, als die Unabhängig-keit von Programmen zu erweitern. Was bleibt, „wenn das Programm das Ver-ständnis der Personen überschritten hat, von denen es geschaffen wurde“2, ist schlichtes Vertrauen in die geschaffenen Programme und die damit verbundene Hoffnung auf weitgehende fehlerfreie Programmierung, welches mit wachsender Leistungsfähigkeit zunehmend das Kriterium der Kontrolle ersetzt. Die Unleserlichkeit von vernetzten Programmroutinen und die daraus resultie-rende Fähigkeit von Computern innerhalb eines Programmverlaufs selbständig ent-scheidend in andere Programmroutinen zu verzweigen, ohne daß diese Entschei-dungen noch der Kontrolle oder Überprüfbarkeit von Programmierern unterliegen würde, ist letztendlich verantwortlich für die „Subjektwerdung“ von Computerpro-grammen. „Die Programme werden von Motiven immer autonomer.“3 Die Unterstellung, Programme könnten nur als fehlerbehaftete gedacht werden, bedarf allerdings noch der weiteren Konkretisierung, denn die durch Fehler be-dingte Autonomie von Programmen zeigt sich selbst dann, wenn die Möglichkeit zur fehlerfreien Formalisierung in der Praxis bestehen könnte - also ein vollkom-men „fehlerfreies“ Programm denkbar wäre. Fehlerfrei würde in diesem Falle nichts anderes bedeuten, als daß der Gegenstandsbereich auf der gewählten Sprachebene in sich schlüssig formuliert ist und somit auf dieser Sprachebene eine einwandfreies Processing gewährleistet wäre. Die gewählte Sprachebene ist im all-gemeinen nicht die, die der Computer einzig versteht, nämlich die Maschinenspra-che, die lediglich in ‘0’ und ‘1’ codierte Befehle zuläßt. Darüber befinden sich die Assembler und darüber wieder die Compilersprachen. Der Programmierer bewegt sich - da die Maschinensprache extrem unanschaulich ist und deshalb Fehler gera-dezu provoziert - zumeist auf einer höheren Sprachebene. „Wie in jeder Hierarchie gehen von der höheren Stelle die Anweisungen aus, werden weitergeleitet und in 1 Hagen, Wolfgang: Die verlorene Schrift. In: Kittler, Friedrich u.a. (Hg.): Arsenale der Seele, a.a.O., S. 225 2 Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, a.a.O., S. 309 3 Flusser, Vilém: Nachgeschichten. Düsseldorf 1990, S. 74