VERFEHLTE INDIVIDUATION 105 Eben genau jenes vermochte Gödel zu zeigen.1 Zuletzt blieb es Alan Turing über-lassen, Hilberts dritte These zu widerlegen, indem er zeigte, wie das Rechnen mit berechenbaren - rationalen - Zahlen das Unberechenbare - das Irrationale - zum Ergebnis hat. „Es konnte kein ‘genau festgelegtes Verfahren’ geben, um alle ma-thematischen Fragen zu beantworten, denn eine unberechenbare Zahl wäre ein Bei-spiel für ein unlösbares Problem.“2 In dieser Widerlegung der drei Thesen ist nun die Unmöglichkeit angegeben, Computeralgorithmen dazu anzuleiten, selbst mit fehlerfrei formulierten Algorith-men auch immerzu fehlerfreie Ergebnisse geliefert zu bekommen. Wo es Aussagen gibt, die weder bewiesen noch widerlegt werden können, das ausschließliche Ope-rieren im mathematischen System auch zu Widersprüchen führen kann, enden jene Algorithmen entweder in Endlosschleifen oder - wo dies programmatisch aufge-fangen ist - rechnen mit Ergebnissen weiter, um deren Wahrhaftigkeit man nicht wissen kann. Unberechenbarkeiten des weiteren werden im Computer durch des-sen explizite Endlichkeit beseitigt. Andernfalls würde der Computer endlos rech-nen bzw. mit Erreichen der Speicherkapazität den Rechenvorgang abbrechen. Die-se gesetzte Endlichkeit aber läßt als Folge das zu berechnende Phänomen nur un-vollständig erfassen, was nur dazu führen kann, diesem nicht gerecht zu werden. Nimmt man zuletzt den Computer als ein Medium an, in dem vom programma-tischen Standpunkt her alles seine Ordnung hat, konstruktive Mängel nicht gege-ben sind und folglich ein einwandfreies Processing erwartet werden darf, so sei nochmals daran erinnert, daß Computer nicht-linear prozessieren. Den Ergebnissen der Chaostheorie ist es geschuldet, zu wissen, daß, wo infolge von Nicht-Linearität Komplexität ausgebildet wird, in Systemen der Ordnung Inseln des Chaos existie-ren (und umgekehrt im Chaos Inseln der Ordnung sich bilden). Solche Inseln sind Intermittenzbereiche genannt und haben beträchtige Folgen: „Japanische Wissen-schaftler fanden heraus, daß in supraleitenden Schaltern [...] plötzlich Unterbre-chungen hereinprasseln. Steigt der Strom durch den Schalter an, so verkürzt sich die Periode zwischen diesen Rauschimpulsen. Folgerung: Der Schalter ist ganz ohne äußere Einmischung auf dem Weg ins Chaos. Die gleiche Erscheinung betraf offenbar ein Computernetzwerk, [...]. Ein Bericht der New York Times wies darauf hin, daß dieses Netzwerk plötzlich seltsames, unvorhersagbares Verhalten gezeigt hatte. Das gleiche geschah einem Netz von Parallelprozessoren, die von Forschern der Firma Xerox zusammengeschaltet waren. Sie entdeckten, daß ihre Computer für genau die gleiche Gleichung völlig zufällig verschiedene Resultate geliefert hatten. Das Problem mit diesen Systemen lag nicht in irgendwelchen Konstrukti-onsfehlern. Die Ingenieure mußten vielmehr einsehen, daß es mit der Komplexität solcher Netzwerke zu tun hat, die unvermeidlich ist, wenn sie nichtlineare Rück-kopplungsschleifen enthalten. Einige Forscher meinen, daß Ausbrüche von Inter-mettenz, [...], eine grundsätzliche Schwäche großer Computernetzwerke bloßlegen. Große Rechnersysteme, [...] könnten dann stets von Anfällen des Chaos bedroht 1 Vgl. ebd., S. 109 2 Ebd., S. 120. Genauer formuliert und ausgeführt ist dies auf den Seiten 107-120.