BILD(SCHIRM)MUSIK 117 der akustischen „Stimmigkeit“ des zuvor Gesehenen gefragt. Wissenschaftsberei-che, in denen - wie bei der Beschäftigung mit akustischen Phänomenen - das Auge zwar grundsätzlich unverzichtbar bleibt, aber neben dem Ohr doch eine eher zweit-rangige Bedeutung spielen sollte, machen die es auszeichnende Dominanz gegen-über anderen Sinnesorganen offenbar: „Heute haben viele Spezialisten, die mit Lautstudien befaßt sind - Akustiker, Psychologen, Audiologen usw. -, keinerlei Er-fahrung mit Lauten in einer anderen Dimension außer der visuellen. Sie deuten Laute nur aus dem, was sie sehen.“1 Voraussetzung, um sich mit Lauten zu be-schäftigen, ist - so R. Murray Schafer weiter - denn auch der Tausch des Auges ge-gen das Ohr, und die Wissenschaft der Akustik ist damit eine Wissenschaft des „Vom-Blatt-Spielens“.2 Mit dem Eintreten in das elektronische Zeitalter der Gleichzeitigkeit glaubt R. Murray Schafer an eine Wiederkehr des Hörens. Doch das Gegenteil darf angenommen werden. Wo im Zeitalter der Bildschirme und Monitore alles nur noch auf seine Bildwerdung wartet, wird auch der Klang dem Primat des Sehens untergeordnet werden respektive bleiben. Primat des Sehens über das Hören oder wie René Berger schreibt: „Nichts geht mehr ohne Bild. Seit die westliche Welt das Auge zum privilegierten Instrument auserkoren hat, seit mit der Renaissance und mit Beginn der experimentalen Wis-senschaft das Auge zur quasi exklusiven Annäherungsweise wurde, seitdem trium-phiert überall das ‘Visuelle’.“3 Das Visuelle triumphiert in der Musik gleichsam da, wo das Bild im Kompositionsprozeß gar nicht in Erscheinung tritt. So macht denn Dieter Schnebel darauf aufmerksam, daß in einer Welt des Bildes auch die Musik nach der Programmatik der Bildwelt komponiert wird. Ehedem zeitlich li-near strukturierte Musik macht einer Musik der Vereinzelung Platz. Alles verläuft in einer solchen Musik „wie ein Gang von Bild zu Bild. Komponieren heißt denn auch nicht mehr wie bis vor kurzem ein (dichtes) zeitliches Beziehungsnetz herzu-stellen, sondern Klangbilder wirkungsgerecht in zeitlicher Folge auszustellen“.4 Es verliert sich die thematisch-motivisch orientierte Arbeit. An deren Stelle tritt ein assoziatives Arbeiten und ein Verarbeiten von Klängen zu Klangbildern. Und dar-aus folgt: „Wo nun das Hören nicht mehr wirklich in der Zeit vor sich geht, den Prozessen in der Musik nicht mehr aufmerksam folgt, sondern die Musik- und auch Sprachklänge gleichsam anschaut - mal da, mal dort; mal verweilt, mal über-springt; geht es gleichsam zeitlos umher, hält es sich bei einzelnen reizvollen Klangbildern auf, oder es zerfällt gar wie beim Film in einzelne Bilder selbst.“5 Dieser Zerfall von zeitlich strukturierter Musik zu Klangballungen ist das Ergebnis eines Bildschirmdenkens respektive eines Denkens in Bildern, das konstitutiv ist für eine primär vom Bild bestimmte Zeit. Mit der fortschreitenden Visualisierung von Sachverhalten geht eine Abkehr vom Text - sei es Schrift- oder Notentext - 1 Schafer, R. Murray: Klang und Krach, a.a.O., S. 167 2 Ebd. S. 167 3 Berger, René: Das Synthese Bild - Synthese wovon? In: Rötzer, Florian/Rogenhofer, Sara (Hg.): Kunst Machen? A.a.O., S. 127f. 4 Schnebel, Dieter: Anschläge - Ausschläge. München/Wien 1993, S. 80 5 Ebd., S. 83