BILDSCHIRM 118 UND MUSIK einher, damit aber auch eine Abkehr von einem Denken in Texten. Es macht einen Unterschied, ob ein Bild erfaßt oder ein Text Zeile für Zeile ab-getastet wird. Ein Bild oder einen Text zu decodieren, setzt jeweils eine andere Lesart voraus, welche jeweils in völlig unterschiedlichen Denkweisen gründet. Der Bildschirminhalt als Bild wird als Ganzes erfaßt und verstanden und braucht nicht wie bei Texten, von einem Anfang auf ein Ende hin gelesen zu werden. Erst am Ende eines Textes (einer Zeile) erschließt sich der Sinn eines Textes (oder der Zei-le). Das heißt, ein diachronisch codierter Sachverhalt wird von seinem Ende hin aufgerollt und zu einem Ganzen synchronisiert. Beim Bild dagegen wird die An-sammlung von Bildelementen von vornherein zu einem Sinnganzen synchronisiert. „Ein Bild ist eine Oberfläche, deren Bedeutung auf einen Blick erfaßt wird“.1 Um Einzelheiten aus dem Bild zu erfassen, braucht es nachfolgend einer Diachronisie-rung der synchron erfaßten Bedeutung. Das hier Beschriebene folgt in seinen zent-ralen Thesen Vilém Flusser, der sich dieses Themas immer wieder angenommen hat, gerade weil in neuen Informationstechnologien das Bild - seiner Anschaulich-keit wegen - wieder zum bestimmenden Informationsträger figuriert ist.2 Zwischen dem Lesen eines Textes oder einer mit Hilfe von Notenschrift entwor-fenen Partitur und dem Lesen eines Bildes besteht also ein fundamentaler Unter-schied. Das Lesen eines Bildes beruht auf Anschaulichkeit, auf Ganzheitlichkeit, auf Konkretizität, das Lesen eines Textes auf dem Vermögen, abstrakt codierte Symbole sich selbst zu veranschaulichen. Während also die linear prozessuale Vorgehensweise auf die Ratio abhebt, indem erst nach einem Disziplin abverlan-genden Sammeln von Daten ein Schluß gezogen und dem Ganzen vorab Gefolgten Sinn verliehen werden kann, verhält es sich bei einem ganzheitlichen Verstehen- Wollen anders: das Ganze wird verstanden, ohne daß die das Ganze auszeichnen-den Sinnelemente im einzelnen verfolgt und verstanden sein müssen; eine nicht bis in alle Einzelheiten nachvollziehbare Anschauung wird dem rationalen Denken ge-genübergestellt. Für das ganzheitliche Erfassen eines Sinninhaltes beim Bild ist dessen Mehrdeutigkeit notwendigerweise mitgesetzt, wohingegen beim Schreiben eines Textes der Versuch unternommen ist, diese auszuschalten. Der Vorteil beim mühsamen Decodieren von Texten liegt folglich in der Verengung der mitgegebe-nen Sinnbandbreite. So wie das Lesen von Texten und Bildern je andere Zugangsweisen erfordern, sind auch beim Entwerfen von Texten und Bildern je mediengemäße Zugangswei- 1 Flusser, Vilém: Lob der Oberflächlichkeit. Schriften I, a.a.O., S. 66 2 Ein Großteil von Flussers Aufsätzen und Büchern widmet sich der Analyse des „in Bildern denkenden“ Menschen in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, den Impli-kationen, die mit dem Aufkommen der Schrift verbunden waren, sowie dem Aufschei-nen eines neuen, dem frühzeitlichen aber nicht vergleichbaren Bilder-Denkens, wie es mit technischen Medien und explizit mit dem Computer sich abzuzeichnen beginnt. Vgl.: Flusser, Vilém: Die Schrift, a.a.O. Ders.: Die Krise der Linearität. Bern 1988. Ders.: Ins Universum der technischen Bilder, a.a.O. Ders.: Für eine Philosophie der Photographie, a.a.O. Ders.: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien. Schriften 1, a.a.O..