BILDSCHIRM 120 UND MUSIK ferung zu fixieren, weit hinaus. Sie wird zum Instrument der Vorausplanung und des experimentellen Erforschens der musikalischen Materie. Sie wird zum Mittel der konstruktiven Planung wie in der Architektur. Mit Hilfe der Mensuralnotation wird es erstmals möglich, auf dem Papier eine neue ‘un-er-hörte’ Musik zu schaf-fen, eine Musik, die man sich nicht als Klangbild hätte vorstellen können.“1 Die Polyphonie der europäischen Kunstmusik wäre ohne Notenschrift unge-dacht geblieben, so daß Françoise Escal diese in der Notenschrift aufgehoben sieht und sie mit ihr gleichsetzt: „Die Polyphonie ist mit der Notenschrift entstanden, sie ist aus der Schrift geboren, sie ist Schrift.“2 Nicht Menschengeist ersinnt so For-men und Gattungen, sondern jene sind dem Programm des Aufschreibesystems Note und Linie immanent, das Komponisten genannte Medienhörige nur zu ver-wirklichen suchen. „Die ‘absolute’ Musik, die großen Formen, das autonome Werk konnten anders nicht entstehen.“3 Musik war fortan eine dem linearen Charakter von Schrift gemäße gestaltete Zeit mit festgeschriebenem Anfang und Ende4, mit der neue „Zeit-Räume“ zu ermessen waren, „die bisher niemals betreten worden waren.“5 In der Konsequenz führt dies zu vollkommen anderen musikalischen Le-benswelten als zuvor, die auch miteinander nicht in Einklang zu bringen waren. „Von diesem Zeitpunkt an stehen schriftliche und mündliche Überlieferung in krassem Gegensatz zueinander.“6 Die eine „un-er-hörte“ Musik ermöglichende Notenschrift hat andere musikali-sche Formen dabei in Vergessenheit geraten lassen respektive der Bedeutungslo-sigkeit anheimgegeben. Bedeutung erfährt das, was für wert befunden wird, nie-dergeschrieben zu werden. Das ist das eine, das andere: Niedergeschrieben kann nur das werden, was auch aufschreibbar ist. Dazu muß der Gesamtklang oder - 1 Rauhe, Hermann/Flender, Reinhard: Schlüssel zur Musik. Düsseldorf/Wien 31993, S. 92 2 Françoise Escal, zitiert nach: Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft, a.a.O., S. 236 3 Lug, Hans Robert: Nichtschriftliche Musik. In: Assmann, Jan u. Aleida/Hardmeier, Christof (Hg.): Schrift und Gedächtnis. München 1993, S. 250 4 Vgl. Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft, a.a.O., S. 55f. 5 Rauhe, Hermann/Flender, Reinhard: Schlüssel zur Musik, a.a.O., S. 92 6 Ebd., S. 93 Hier am Rande sei nur angemerkt, daß im Notenwerk einer Textmusik zur besseren Überschaubarkeit beigefügte optische Strukturierungshilfen wie der Taktstrich, ob-wohl doch selbst kein Musiksymbol, in der realisierten Klanggestalt deutlich zu ver-nehmen sind. „Der Taktstrich verleitet dazu, in der Praxis jede Note zu Beginn eines Taktes zu betonen und dadurch am Ende des Taktes zu erschlaffen“ (Tappolet, Willy: Notenschrift und Musizieren. Das Problem ihrer Beziehungen vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Berlin-Lichterfelde 1967, S. 42). Die so auch auf diese Weise Ge-stalt annehmende „un-er-hörte“ Musik unterwirft auch vormalige taktlose Musik dem Diktat der groben Rasterung, dem sich fortan keine Musik mehr entziehen kann. Das Ergebnis ist die - im Vergleich zu anderen Kulturen - schlichte Rhythmik europäischer Kunstmusik mit ihren schweren Taktzeiten, die in aller Gegenwartsmusik westlicher Kulturen sich widergespiegelt sieht (vgl. ebd., S. 42ff.).