BILD(SCHIRM)MUSIK 121 verlauf zerlegt werden können in durch diskrete Notensymbole repräsentierte Ein-zelfragmente. Eine solche Zerlegung in Symbole kann aber nur begrenzt Musik re-präsentieren. „Verglichen mit dem virtuell unendlichen Kosmos des organisch Klingenden wirkt besonders einschneidend die grobe Rasterung des Koordinaten-kreuzes.“ 1 Damit wird alle unaufschreibbare Musik prinzipiell Nicht-Musik, und so folgt der un-er-hörten erhörten Musik die Nicht-Musik, die ungehört bleibt. Über den Umweg der Abstraktion wird des Konkreten gedacht, indem im Re-gelsystem des Abstrakten gedacht, empfunden, bewertet und komponiert wird. Die Notenschrift „besteht bald nur noch aus Punkten und Strichen, die in ein Dia-gramm eingetragen werden. Der Ton ist atomisiert, er entbehrt nun jeglicher Sym-bolik und Beziehung zur mündlichen Überlieferung.“2 Musik wird so Text und ist eine andere als vor ihrer Verschriftlichung, indem sie einerseits vielfältige außer-gewöhnliche Klangwelten hat Gestalt annehmen lassen, andererseits aber die Erin-nerung allmählich löscht an jenes, was sich der Aufschreibbarkeit widersetzt. Mit der Erinnerung geht so einher das Vergessen. Ein Vorgang, der sich diskret voll-zog. 3 Mit dem Zerlegen von Musik in diskrete Symbole wandert die Musik aus aus der immateriellen Welt des Klanges hinein in die Materialität eines Aufschreibe-systems und beweist Textqualität. Will man aber über die Qualität von Texten et-was erfahren und ist angeregt, Bedeutungen zu ergründen, so muß man lesen, und genauso geschieht es mit einer Textmusik: fortan wird Musik lesend zu ergründen gesucht, und im späteren Hören noch hört man die Grammatik des Textes, in deren 1 Lug, Hans Robert: Nichtschriftliche Musik. In: Assmann, Jan u. Aleida/Hardmeier, Christof (Hg.): Schrift und Gedächtnis. a.a.O., S. 250 2 Rauhe, Hermann/Flender, Reinhard: Schlüssel zur Musik, a.a.O., S. 92f. 3 Welche Folgen das für eine Kultur haben kann, läßt sich besonders dort erkennen, wo eine Musikkultur bis in die Jetztzeit hinein - vornehmlich schriftlos überliefert - ihren eigenen Charakter zu bewahren verstand und nun im Gefolge einer Durchdringung der Kultur mit der Notenschrift in kürzester Zeit eine notengemäße Musik zu spielen be-ginnt, welche auf das nicht mit Noten Ausdrückbare und nicht in das Liniensystem zu Integrierende weitgehend verzichtet. Die arabische Kultur mag hier, wie Issam El- Mallah in einem Vortrag an der TU Braunschweig dargelegt hat, als Beispiel dienen. Selbst für einen Europäer, der nicht mit der Musik des arabischen Kulturkreises ver-traut ist, sind diese Veränderungen deutlich hörbar, operiert jene Musik doch mit Vier-teltonschritten, welche mit der europäischen Notenschrift nicht aufschreibbar sind, folglich bei der Niederschrift auch keine adäquate Berücksichtigung finden. Eine sol-chermaßen verschriftlichte und wieder zu Gehör gebrachte Musik klingt deutlich an-ders als eine traditionell ohne Notenvorlage gespielte. In Kürze soll dies nach Angabe des Vortragenden nachzulesen und auf zwei CDs dokumentiert sein in: Ders.: Arabi-sche Musik und Notenschrift (Florian Noetzel Verlag). Interessant ist hierbei auch der Bedeutungsverlust, den der über Jahrhunderte unangefochten mündlich Überliefernde und Lehrende durch die Existenz einer verschriftlichten Musik erfährt. Implikationen, welche mit dem Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit im europäischen Mit-telalter verbunden waren und in der Wissenschaftsliteratur zahlreich beschrieben sind, lassen sich deutlich an jenem Beispiel nachzeichnen.