BILDSCHIRM 128 UND MUSIK Eine jede graphische Notation dagegen auf einem Blatt Papier wird zweifelsoh-ne als symbolischer Versuch anerkannt, Musik zu repräsentieren. Der subjektive Charakter dieses Versuches ist eindeutig erkennbar, und eine danach realisierte Musik wird ebenfalls dem Subjekt gerecht. Computerbildpunkte scheinen dagegen die Musik zu bedeuten, sie erwecken den Anschein von Objektivität. Ganz ähnlich wie Fernsehbilder deckungsgleich mit dem Abgebildeten zu sein scheinen und Ob-jektivität vorgeben, dabei den eingenommenen, subjektiven Blickwinkel des Ka-meramannes ausblenden, woraus, wie Flusser meint, eine Kritiklosigkeit diesem „neuen Typ von Bild gegenüber“1 erwächst, läßt sich auch in dem hier beschriebe-nen Fall von Kritiklosigkeit jenen Bild/Tonverhältnissen gegenüber reden. Wenn nun relativ frei zu interpretierende traditionelle Grafikpartituren durch Scanning überführt werden in Computerprogramme, so verlieren auch sie ihre Mehrdeutigkeit, und aus ihnen prozessierte Musik stellt für Zuhörer und -schauer einen objektiven Tatbestand dar. Traditionell angefertigte und ursprünglich für den „Live“- Betrieb gedachte Grafikpartituren unterliegen somit dem gleichen Deter-minismus wie computerangefertigte Grafiken. Gleichgültig, welchen Freiraum eine graphische Notation für einen Interpreten auch immer bot, einmal gescannt, stellt sie für ein Programm wie KANDINSKY MUSIC PAINTER gleichsam eine distinkte musikalische Information dar, ist objektiviert, eine Eigeninterpretation nicht mehr notwendig. „Damit ist Grafik weder Anleitung zum Improvisieren noch bloße Dar-stellung von Klängen, sondern die den Klang bestimmende Gestalt selbst“.2 Ein Schauender ist nunmehr der Aufgabe enthoben, eigene musikalische Vorstellungen von jener Bildschirmkomposition zu entwickeln. Zugleich wird damit die Frage evident, inwieweit die Gültigkeit einer nicht-computerrealisierten Interpretation von Bild zu Ton fortan an jenem objektiven Standard gemessen wird, den Computertransformationen zu gewähren scheinen. Es erfolgt eine Vorprägung, bedingt durch die scheinbare Objektivität spiegelnde Pro-duktion des Identischen im Gegensatz zur Variabilität von Menscheninterpretatio-nen, „ist es doch eigentlich ausgeschlossen, daß auch nur zwei Orchester oder zwei Dirigenten ein Werk gleichartig interpretieren können.“3 Dieter Schnebel hat die-sen Prozeß der Vorprägung ganz allgemein wie folgt beschrieben: „die wiederholte Apperzeption eines genau Identischen, die es im realen Leben gar nicht gibt und nicht geben kann, stanzt gleichsam Figuren in unser Gedächtnis, die wie Bilder haften, während beim Live-Erlebnis sich zeitliche Erscheinungen einprägen, die stets ihr Fließendes oder auch ihr momenthaft Aufstrahlendes bewahren.“4 Live- Aufführungen sind eindeutig das Ergebnis von Subjektanschauungen, die sich nicht an absoluten Begriffen wie „richtig“ und „falsch“ messen lassen. Im Compu- 1 Flusser, Vilém: Lob der Oberflächlichkeit, a.a.O., S. 49 2 Humpert, Hans Ulrich: Elektronische Musik, a.a.O., S. 52 3 Heinz Götze, in: ders./ Wille, Rudolf (Hg.): Musik und Mathematik. Heidelberg 1985, S. 85. Auch wenn es der Ergänzung fraglos nicht bedürfte: Nicht einmal derselbe Diri-gent mit demselben Orchester könnte ein Werk noch einmal in gleichen Art und Weise interpretieren. 4 Schnebel, Dieter: Anschläge - Ausschläge, a.a.O., S. 79