BILDSCHIRM 130 UND MUSIK Ein Vorschreiben war allein aus Mangel an Genauigkeit der Symbole gar nicht denkbar. Ihr einziger Zweck war der der Deskription. Die symbolische Codierung von Musik sollte also in ihren Anfängen bestenfalls die ungefähre Bewegungsrich-tung der Melodie angeben, aber nicht die exakte Tonhöhe eines jeden Tones.1 Da lediglich erinnert wurde, wie einst ungefähr etwas geklungen hatte, galten reprä-sentierende Symbole auch rein als reine Erinnerungshilfen, als rememorationis subsidia, wie es in der Musica enchiriadis2 aus dem 9. Jahrhundert heißt, ihr Zweck also war mitnichten der der Vorschrift für das Zukünftige. Musikvorträge waren danach keine Reproduktionen symbolisch codierter Musik, sondern in ihnen sind Rekonstruktionen zu sehen, in denen Überlieferung und Produktion in eins fie-len. 3 Der Vortragende allein autorisierte die Musik, bürgte mit seiner ganzen Per-sönlichkeit für die Richtigkeit des Vortrags, nicht aber das Schrifterzeugnis. Wie das Aufzuführende schlußendlich tatsächlich klang, war abhängig und gebunden an die ausführende Instanz, so daß sich voneinander unterscheidende Vortragsleis-tungen von Autoritäten sich durchaus auf dasselbe Musikstück beziehen konnten, das sich in jeder Vortragsversion in authentischer Weise realisiert sah.4 Noch im 16. Jahrhundert galt das in der Schrift Fixierte und durch den Druck leicht zu Vervielfältigende noch als Anleitung zum Spiel, aber nicht als unbedingte Vorschrift: „denn die Vorführ- und Virtuosenmusik ist weiterhin nichtschriftlich. [...] Kein Wunder, daß uns aus der Zeit der großen Lautenisten des 16. Jahrhun-derts die Gewohnheit berichtet wird, bei besonders effektreichen Passagen dem Auditorium die Position der Hände zu verbergen und damit den Einblick in die Trickkiste zu verwehren“.5 Mit der Ausdifferenzierung der Notenschrift verkehrte sich das Mittel zur Beschreibung in sein Gegenteil. Mit anderen Worten: der Code zum symbolischen Aufzeichnen von musikalischen Verläufen wurde, indem die musikalischen Parameter Notenhöhe, Dauer, Rhythmus wie Lautstärke voneinan-der getrennt aufzuzeichnen vermocht wurden, zunehmend diskreter oder mit den 1 Vgl. Adler, Guido (Hg.): Handbuch der Musikgeschichte. Bd. 1. München 51985, S. 94f. 2 Vgl. Tappolet, Willy: Notenschrift und Musizieren. Das Problem ihrer Beziehungen vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 8 3 „Musiker und Notenschreiben reproduzieren nicht, sie rekonstruieren das Stück jedes Mal auf der Basis verschiedener Gegebenheiten: - den Gegebenheiten eines musikalischen Systems: Konventionen der Kirchentonarten, Gesetze der Melodiebildung, Psalmodieformeln; - den formalen und melodischen Eigenschaften einer melodischen Grundstruktur, [...]; - den festen melodischen Kadenzformeln und Wendungen“ (Möller, Hartmut: Die Schriftlichkeit der Musik und ihre Folgen. In: Funkkolleg Musikgeschichte. Europä-ische Musik vom 12.-20. Jahrhundert. Studienbrief 2. Der Ursprung des Musikwerkes. Weinheim/Basel, S. 30). 4 Vgl. ebd., S. 31 5 Lug, Hans Robert: Nichtschriftliche Musik. In: Assmann, Jan u. Aleida/Hardmeier, Christof (Hg.): Schrift und Gedächtnis. a.a.O., S. 252f.