INTERPRETATION UND DETERMINATION 131 Worten Kagels „analytischer“1. Anstatt deskriptiv zu wirken, gewinnt das Notat mehr und mehr präskriptiven Charakter. Mitte des 18. Jahrhunderts verliert sich die Freiheit des Musikers zum Ausschmücken und Mitgestalten, die Noten werden ihres Charakters als „imperativistische Symbole“2 mehr und mehr gerecht, die bestmöglich in ihrem Gehalt, ohne eigenschöpferisches Hinzutun umzusetzen sind. Alle Autorität ist nun an das Schriftgewordene delegiert, das sich durch eine stetig wachsende Aufschreibkomplexität zusätzlich legitimiert, denn mit immer neuen Vortragsbezeichnungen wächst auch der Glaube an die genaue Aufschreibbarkeit von Musik. Es gilt, „die ‘Wahrheit’ allein in der scheinbar so präzisen Notation zu suchen, sich nur an die Noten zu halten und nur noch ‘nach Noten’ zu musizie-ren.“ 3 Das Ausbilden eines folgsamen Spielens nach befehlsgebenden Symbolen führt dann in letzter Konsequenz zu jenen klassisch gebildeten Musikern, „die oh-ne Notenblatt nichts spielen und nichts singen können.“4 Die eigenschöpferische Kraft zum Klangentwerfen wird mit der Akzeptanz des graphischen Zeichens „No-te“ als einer expliziten Anweisung zum Musizieren gehemmt, wenn nicht gar völ-lig eliminiert. So wie die Notenschrift auch ursprünglich rein deskriptiven Charakter besaß, die für sich genommen keinerlei Anspruch auf Autorität und Gültigkeit hatte und erst aufgrund ihrer innewohnenden Programmatik die Präskription ausbildete, so bilden also Computergrafikpartituren die Unbestimmtheit von graphischen Partituren in Bestimmtheit und Programme werden ihrem Namen gerecht: Sie bieten Vorschrif-ten zum Denken. Bild wie Ton, beides Orte reichhaltiger Imaginationswelten, ver-lieren diese Weiträumigkeit und wirken präskriptiv. Der Imperativ des Präskripti-ven wirkt zu beiden Seiten. Die musikalische Information, mit der ein jeder andere Bilder assoziieren kann, erfährt mit der Möglichkeit zur Bildtransformation gleich-ermaßen ihre Festlegung im Bild. Programme wie das beschriebene KANDINSKY MUSIC PAINTER-Programm unterlaufen (unbeabsichtigt) die Einbildungskraft des einzelnen und ersetzen diese durch die leicht konsumierbare, Anschauung gewor-dene Bilderwirklichkeit des Programmierers. Menschenimagination verliert sich im Abstraktionsspiel von Modellwirklichkeiten vorstellenden Algorithmen. Der Logik verpflichtet, errechnen Computer anschauliche und in sich konsistente Punktuniversen. Dies gilt auch schon für ein in seiner Bildqualität noch bescheiden anmutendes Programm, wie das KANDINSKY MUSIC PAINTER-Programm eines ist. Die Plausibilität der Ergebnisse läßt die Frage nach dem Processing und dem Pro-grammierer vergessen. Programmierer offerieren, sich selbst beschränkend, eine ausgewählte, objektivierte Imaginationswelt einem Publikum in Form von Pro-grammen und weisen dieses über Bildschirmbefehl an, was imaginiert sein soll. 1 Kagel, Maurice: Komposition, Notation, Interpretation. In: Darmstädter Beiträge zur neuen Musik. Mainz 1965, S. 58 2 Ingarden, Roman: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Tübingen 1962, S. 26 3 Tappolet, Willy: Notenschrift und Musizieren. Das Problem ihrer Beziehungen vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 58 4 Lug, Hans Robert: Nichtschriftliche Musik. In: Assmann, Jan u. Aleida/Hardmeier, Christof (Hg.): Schrift und Gedächtnis. a.a.O., S. 254