Komplex und Autonom: Von Analog zu Digital zu Analog zu ... Der Klang einer Trompete sowie der eines 0/1-Trompeten-Samples mögen für einen Hörer ähnlich oder gar ununterscheidbar sein, doch bleibt eine unüberbrück-bare Differenz zwischen dem analogen und digitalen Klang bestehen. Allerdings liegt diese Differenz nicht, wie vielleicht manch einer etwas vorschnell beizu-pflichten geneigt wäre, in dem Klangphänomen als solchem begründet. Sie ist wo-anders verortet: Die Differenz liegt in der Gestalt des Analogen wie Digitalen selbst begründet. So sind denn jene beiden zum Beispiel genommenen Klänge un-terschieden nicht durch ihre Klangfarbe, sondern darin, daß es sich zum einen um einen komplexen, nicht zur Gänze erschließbaren wie zum anderen um ein voll-kommen erfaßbaren Klang handelt. Alles in der analogen Welt sich Darbietende ist in ein komplexes, rückgekoppel-tes Netzwerk von Beziehungen integriert, eine Welt zudem, in der alles ineinander-fließt, ohne daß die jeweiligen Zustände des Analogen eindeutig voneinander ab-grenzbar sind. Unüberschaubare Komplexität und Rückkopplung bedingen die Nichtzurückführbarkeit analoger Phänomene auf völlig ergründbare Gesetzmäßig-keiten, auf eine bestimmte nachvollziehbare Ordnung. Dagegen besticht die Digita-lität durch ihre Endlichkeit und durch explizite Berechenbarkeit. Trotzdem braucht es bei der Überführung analoger Sachverhalte in die Welt des Digitalen das Analoge repräsentierende Gesetzmäßigkeiten. Die Repräsentation analoger Sachverhalte geschieht mittels Rechenmodellen, welche also zunächst einmal entworfen sein wollen. Und diese Modelle sind über den Prozeß eines fort-währenden In-Distanz-Gehens zu Dingen gewonnen und das Ergebnis einer Abs-traktionsleistung des Geistes: Die Phänomene der Welt werden durch Beobachtung und Experiment auf endliche Zahlenereignisse reduziert, um daraus Theorien zu formulieren, welche die konkrete Welt zu erklären suchen. Die konkrete Welt - auf Zahlenereignisse gebracht - ist dabei zunächst einmal als Fortschreibung der Welt auf einer anderen Ebene zu denken: eben die Transformation von analog zu digital. Mit Bezug auf Holger van den Boom, der ganz allgemein den Vorgang der Sinn-konstitution und -bewahrung beschreibt, läßt sich sagen: „Das Bild der Welt muß aus der Welt semiotisch ‘deduziert’ werden. Die Welt muß vor Ort, also in der Welt, in ihr Bild, die Hardware in Software umgearbeitet - transformiert - werden. Das Weltbild entsteht nicht aus dem Kopf: Theorie gründet in Praxis, d.h. in Ar-beit.“ 1 Was mit Computern nunmehr möglich ist, ist aus der formulierten Theorie die Praxis entstehen zu lassen. So wie Theorie in Praxis gründet, mündet nunmehr Theorie wieder in Praxis. 1 van den Boom, Holger: Digitaler Schein - oder: Der Wirklichkeitsverlust ist kein wirk-licher Verlust. In: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein, a.a.O., S. 191