135 KOMPLEX UND AUTONOM: VON ANALOG ZU DIGITAL ZU ANALOG ZU ... Nachdem zuvor von den konkreten Phänomenen auf abstrakte, nur der Ratio zu-gängliche Formeln geschlossen wurde, so ist es fortan möglich, aus den Abstrakti-onen wieder Konkretionen zu entwerfen - mögen dies Bildwirklichkeiten oder Klangphänomene sein. Die analoge Welt ist so komplex, daß sie in ihren Existenzbedingungen nicht vollkommen beschreibbar ist. Gesetze zu formulieren heißt also, unendliche Be-ziehungsgeflechte auf endliche Formeln zu bringen, indem Ursache-Wirkungs- Beziehungen beschrieben werden, wo keine distinkten Ursache-Wirkungsverhält-nisse währen. Erkenntnisfindung generell ist eine digitale Erklärung analoger Sachverhalte und demnach abhängig von der Sicht des Beobachters, der Markie-rungen setzt und unaufhörlich „Erkenntnis-Löcher“ produziert. „Die denkende Sa-che ist klar und deutlich - und das heißt: sie ist voller Löcher zwischen den Zahlen. Die Welt ist aber eine ausgedehnte Sache - res extensa -, in der alles fugenlos zu-sammenpaßt. Wenn ich also die denkende Sache an die ausgedehnte anlege, [...] dann entschlüpft mir die ausgedehnte Sache zwischen den Intervallen.“1 Mit der je produzierten Erkenntnis geht einher der Verweis auf inaktuelle, kontingente Er-kenntnisse. Komplexität erzeugt immer „Selektionsdruck und Kontingenzerfah-rung“. 2 Abstrahieren und formalisieren bedeutet demnach, komplexitätsreduzierte Modellwirklichkeiten auf der Basis klarer und deutlicher wiewohl subjektdepen-denter Gedanken zu entwerfen, und das heißt weiter, durch den Überschuß nicht-aktualisierter Möglichkeiten dem analogen Systemzustand nicht gerecht zu wer-den. 3 Mit solchem Denken aber, das mit klaren und eindeutig formulierten Gedanken operiert, läßt sich vortrefflich rechnen im Medium, das selbst ausschließlich mit dem „Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Merkmals“4 rechnet. Faßt man das Gesagte zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Alles Digitali-sieren ist also immer mit Komplexitätsreduktion verbunden und hat demnach im-mer einen erheblichen Informationsverlust zur Folge.5 Die als Zahlenereignis in den Computer implementierte „ausgedehnte Sache“ beschreibt eine auf distinkte Denotate reduzierte Wirklichkeit, die eine die Wirklichkeit vorgebende, gleich-wohl infolge ihrer Reduktion immer eine sie simulierende und nie vollkommen er-fassende bleiben wird. Zur vollkommenen Erfassung des Analogen müßte das Di-gitale die 1 : 1- Simulation betreiben, um eine dem Analogen identische wie un-endliche, daher unbeschreibbare Komplexität auszubilden. Was aber unbeschreib-bar ist, ist auch nicht aufschreibbar in Algorithmen. Die grundsätzliche Unaufschreibbarkeit des Analogen bewahrt vor umfassender 1 Flusser, Vilém: Digitaler Schein. In: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein. Ffm 1991, S. 150 2 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, a.a.O., S. 252 3 Vgl. Luhmann, Niklas: Haltlose Komplexität. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 5, a.a.O., S. 59-77 4 Barthes, Roland: Elemente der Semiologie. Ffm 1979, S. 67 5 Vgl. Watzlawick, Paul/ Beavin, Janet/ Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation, a.a.O., S. 96ff.