BILDSCHIRM 136 UND MUSIK Menschenkontrolle. Und es wäre weiter zu bestimmen: Das Analoge operiert gera-de aufgrund seiner vielschichtigen Abhängigkeiten autonom. Mit anderen Worten: Nur unter den Bedingungen vielschichtiger Abhängigkeiten läßt sich Autonomie erlangen. Oder noch weiter verkürzt: Autonomie und Abhängigkeit bedingen ei-nander. Das Gesagte gilt allerdings ganz allgemein für jede Form von Komplexitätsaus-bildung und somit auch für die vollkommen beschreibbare Welt des Digitalen. Denn je ausdifferenzierter ein System ist, um so sensibler und variabler kann es auf Umwelteinflüsse reagieren und damit Unabhängigkeit erlangen. Zugleich kann von außen ein Systemzustand nur noch ungenügend beobachtet und beeinflußt werden. Anhand unterschiedlicher Beispiele aus der Praxis der analogen aber auch der digi-talen Klangerzeugung will dies diese These des einander bedingenden Autono-mie/ Abhängigkeitsverhältnisses präzisiert werden. Digital wie Klangerzeugung auf dem elektronischen Sektor heutzutage fast aus-schließlich prozediert, geht bei dem Versuch um Klangauthentizität selbstverständ-lich die im voraus beschriebene Komplexitätsreduktion einher. Die Synthesekom-plexität kann zum Zwecke der Klangoptimierung nach und nach erweitert werden. Es ist also wünschenswert und notwendig, über eine möglichst große Anzahl von klangrelevanten Parametern zu verfügen, die aus der Analyse von Realzuständen gewonnen sind. Je größer deren Anzahl, um so realitätsnäher oder besser analoger wird das prozessierte Klangereignis sich einem Zuhörer auch mitteilen. Mit der Anzahl der Möglichkeiten zum gezielten Klanggestalten ist eine deutliche Steige-rung der Klangvariabilität zu erwarten. Dementsprechend wächst also mit der Aus-bildung einer computerinternen Komplexität die „Freiheit“ in der Klanggestaltung. Der Grad der freien Entfaltung von Klangwirklichkeiten bemißt sich nach der Komplexität der zugrundegelegten Klangsynthese. Mit Jean François Lyotard wäre dies auf folgende Aussage gebracht: „Erste Richtung: das Material ist umso freier, je bestimmbarer es ist“, wobei „mit der Vervielfältigung der Variablen“1 die Mög-lichkeit zur Kontrolle und damit zur Klangbeeinflussung wächst. Lyotard läßt die-ser ersten Richtung sogleich eine zweite folgen, mit der das Abhängigkeits- /Autonomieverhältnis, das im Analogen wirkt, wieder ins Spiel kommt. „Zweite Richtung: das Material ist umso bestimmbarer und beherrschbarer, je befreiter es ist.“2 Indem das Material aus einem bestimmten Kontext herausgelöst ist - also bis auf einige Gesetzmäßigkeiten alle übrigen Determinanten negiert oder ausgeblen-det werden - ist das Material seiner zahllosen ineinandergreifenden Determinanten „befreit“ und die absolute weicht einer möglichst weitreichenden, doch begrenzt bleibenden Determination. Das schreibt sich dann digital. „Man kann also folgen-des sagen: da der Klang sich befreien kann, kann die Technik ihn beherrschen. Und umgekehrt.“3 Herausgelöst aber aus den komplexen Abhängigkeiten, ist das Mate-rial befreit und Kontrolle möglich, das autonome Wirken dabei ausgeschlossen. Um Kontrolle auszuüben, ist die Befreiung des Klanges aus seinen Bedingtheiten 1 Lyotard, Jean-François: Das Inhumane. Wien 1989, S. 281 2 Ebd., S. 281 3 Ebd., S. 281/282