139 KOMPLEX UND AUTONOM: VON ANALOG ZU DIGITAL ZU ANALOG ZU ... oder einen externen Sampler angehört, bewertet und in seinem Obertonverlauf kor-rigiert werden. Ein so entstehender Violin(en)klang ist nicht das Ergebnis einer spieltechnischen Leistung eines bogenführenden Instrumentalisten und eines kur-zen Augenblickes, in dem die Violine gestrichen wird, sondern es ist ein Ergebnis eines Wissens um die Physik der Klänge und eines längerfristigen Prozesses. Da-bei kann dem vorgestellten Streicherklang sich immer weiter angenähert werden, bis das vorgestellte und das generierte Klangereignis zur Deckung kommen. Ein Instrumentalist dagegen, der gleichsam eine bestimmte Vorstellung von sei-nem Violin(en)klang hat, kann diesen immer nur bis zu einem gewissen Grad ver-wirklichen, da der real gespielte Klang von zahlreichen Faktoren beeinflußt ist, die nicht alle bei dem Versuch, sich einem idealisierten Klang anzunähern, Berück-sichtigung finden können. Der sich entwickelnde Klang erweist sich als in einem bestimmten Grad immer autonom von dem klangentwerfenden Instrumentalisten. Dabei ist nicht allein der reine, physikalisch determinierte Klangverlauf der Kon-trolle entzogen. Schon im Vorfeld der Klangerzeugung bedingen nichtbeeinflußba-re Faktoren Klangbeeinträchtigungen, die der Vorstellung des Instrumentalisten von Klang entgegenstehen mögen und deshalb immer nur eine Annäherung an denselben erlauben. Die Akustik des Raumes mag nicht zu hundert Prozent dem entsprechen, wie es wünschenswert wäre. Auch der Bogenstrich dürfte mit dem vorgestellten oft genug nicht zur Deckung kommen und so die weitere Entwick-lung unbotmäßig beeinflussen. Die Bogenhaltung bei der Violine mag vielleicht bei einem Versuch optimal gewesen sein, beim nächsten Versuch wiederum nicht. Es ist immer der Augenblick, der über Erfolg und Mißerfolg entscheidet, da das augenblickliche Tun nicht kalkulierbar ist. Um zu entscheiden, wann ein Klang ge-lungen ist, bedarf es der persönlichen Kontrolle. Im Moment des Spielens kann das zu Gehör Gebrachte nicht mit der notwendigen kritischen Distanz beurteilt werden. Selbst wenn die äußeren Umstände und innerlichen Befindlichkeiten einmal ein nahezu ideales Klangerlebnis zulassen, so bleibt ein solches Ergebnis lediglich Einzelfall und ist so ohnehin nicht mehr zu wiederholen. Wenngleich das Beschriebene überzeichnet scheint und sicherlich zum Teil auch ist, in der Überzeichnung wird die Unwägbarkeit analoger Klanggestaltung offen-sichtlich. So viele Komponenten sind für einen einzigen Ton verantwortlich, daß sie gar nicht in ihrer Gesamtheit erfaßt und beeinflußt zu werden vermögen, was auch die identische Wiederholung eines jeden Ereignisses zur Illusion werden läßt. Und Wiederholung heißt im analogen Bereich der Klangerzeugung, ein jedes Mal den Prozeß der Klanggestaltung gänzlich von neuem zu beginnen, denn an dem vergangenen entschwundenen Ton läßt sich nichts mehr korrigieren und gestalten. Der digital konstruierte Klang dagegen unterliegt, indem auf alle klangrelevan-ten Optionen zu jeder Zeit der Zugriff gewährleistet ist, der vollkommenen Kon-trolle des Operateurs, Programmierers oder Musikers. So kann schließlich ein den Vorstellungen des Programmierers gemäßer „idealer“ Streicherklang erzeugt wer-den. Die notwendige Distanz wird nie von Perspektivverschiebungen getrübt, weil die Voraussetzungen des Klanghörens immer gleich bleiben. Durch die Nichtbetei-ligung des Körpers bei der aktiven Klangerzeugung - der Computer realisiert den