141 KOMPLEX UND AUTONOM: VON ANALOG ZU DIGITAL ZU ANALOG ZU ... und speziellen Pfeifenorgel-Registern.“1 Versuche, den Klang mit all seinen Teil-tönen zu kontrollieren und gezielt nach- oder auch gänzlich neu zu bilden und da-mit Kompositionen bis ins kleinste Klangatom zu determinieren, scheiterten allein daran, daß die Selektionsvielfalt eine stark eingeschränkte war, wohingegen das Selektionspotential eines mit seiner Umwelt in Abhängigkeit stehenden analogen Klanges so umfassender Natur ist, daß dieses unter Studiobedingungen auch nicht annähernd zu rekonstruieren vermocht wurde. Die Folge: „Den elektronisch er-zeugten Tönen und Geräuschen ist ihre Starrheit vorgeworfen worden: technisch gesprochen, das Fehlen der geringen Schwankungen, die für vokale und instrumen-tale Töne charakteristisch sind und die nur in gröberen Fällen als solche, das heißt als primitives Vibrato, wahrgenommen werden, sonst aber dem Ton oder Geräusch eine imaginäre Belebtheit vermitteln. Das elektronische Material ist der Gefahr ausgesetzt, als tote Hülse von Klänge zu wirken.“2 Die Komplexität natürlicher Klänge war, sobald völlige Kontrolle angestrebt wurde, nicht zu realisieren und folglich, wo diese trotzdem das Ziel blieb, das Musikergebnis ein von Statik ge-prägtes. Das Ideal, vom Sinuston voranschreitend, der Natur ähnliche, nun aber dem Willen des Klanggestalters vollkommen unterworfene Klangphänomene zu generieren, blieb unerreichbar. Der Sinuston erwies sich „überraschend“, wie Bernd Alois Zimmermann schreibt, „nicht als so amorph wie ursprünglich ange-nommen, und nichts mag das besser beweisen, als die Tatsache, daß die Kompo-nisten elektronischer Musik sich bald von dem Arbeiten mit reinen Sinustönen ab-und auch wieder der menschlichen Stimme oder vorfabrizierten Schallereignissen zuwandten.“3 Infolgedessen nahm also auch die elektronische Musik wieder Ab-schied von der Idee der vollkommen determinierten Komposition, öffnete sich na-türlichen Klängen, näherte sich damit der zuvor heftig bekämpften musique con-crète an und akzeptierte nunmehr die abhängigkeitsbedingte Freiheit natürlicher oder besser ausgedrückt: die von völliger menschlicher Kontrolle befreiten Klänge. Und Kompositionen wie der „Gesang der Jünglinge“ eines Stockhausen konnten Klangwirklichkeit werden, da in diesem Musikstück angestrebt war, „zwischen Sprache und Musik ein Kontinuum zu komponieren“4, folglich mit dem komplexen Phänomen Sprache Abschied genommen war von dem „ursprünglichen Postulat der Reduktion aller Klänge auf ein einheitliches und homogenes Grundmaterial“5, was man zuvor mit dem Sinuston gefunden zu haben glaubte. Es war also wieder ein Spiel mit Unbekannten, das statthatte. Mit der Aufgabe umfassender Kontrolle wurde also wieder der partikularen Klangautonomie Platz eingeräumt. Dieses im Analogen währende Autonomie/Abhängigkeitsverhältnis wäre aber nun auf der Ebene des Digitalen (weiter) fortzuschreiben, denn mit der fortschrei- 1 Ruschkowski, André: Soundscapes. Berlin 1990, S. 102 2 Dahlhaus, Carl: Ästhetische Probleme der elektronischen Musik. In. Ders.: Schönberg und andere, a.a.O., S. 240 3 Zimmermann, Bernd Alois: Gedanken über elektronische Musik. In: Ders.: Intervall und Zeit. Mainz 1974, S. 56 4 Ruschkowski, André: Soundscapes, a.a.O., S. 104 5 Ebd., S. 103