BILDSCHIRM 142 UND MUSIK tenden „Befreiung“ des Klanges bilden sich neue - mitunter unergründbare - Kom-plexitätsordnungen aus. Zwar ist es so, daß mit der Bestimmbarkeit des Klanges dessen Beherrschbarkeit wächst, doch ließe sich mit Blick auf die zweite von Lyotard formulierte Richtung weiter schließen, daß je bestimmbarer ein Klang wird, dieser schlußendlich gleichsam immer unbeherrschbarer wird, also wiederum seine Autonomie beweist. Mit der Befreiung des Klanges aus seinen Bedingtheiten wird also ein neues Abhängigkeitsverhältnis eingegangen, das menschlicher Kon-trolle entgegensteht. Mit wachsender Komplexität einer Klangsynthese wird der Klang selbst immer abhängiger von der wachsenden Zahl seiner Bedingtheiten. Die Anzahl der klang-beeinflussenden Parameter bestimmt die Bedingtheit des Ergebnisses. Je reduzier-ter die Möglichkeiten, um so unbedingter aber auch unflexibler ist das Klang-ereignis. Flexibilität ist das Ergebnis von Komplexität. Wo demnach unzählige Möglichkeiten - ob im analogen oder digitalen Bereich gleichermaßen - in jede Richtung hin offenstehen, erlangt das Material schließlich selbst Autonomie unter Aufgabe seiner Freiheit, und das heißt, es ist gefesselt und abhängig von seinen unzähligen Bedingtheiten, zugleich aber befreit von jeglicher Kontrolle. Syntheseverfahren der Folgezeit sahen sich mit diesem infolge von wachsender Komplexität einhergehenden Unabhängigkeitsstreben digitalen Processings kon-frontiert, was schlußendlich Synthesizer wie den DX7 mit seiner FM-Synthese zum Ergebnis hatte. Dieser Synthesizer bot mit seinen endlich vielen Klangpara-metern nahezu unendliche viele Kombinationsmöglichkeiten, die in großen Teilen unausgeschöpft blieben. Die Parametervielfalt blieb undurchschaubar. Folglich führt die Befreiung des komplexen Klanges aus seinen Abhängigkeiten zu dem kontrollierbaren komplexitätsreduzierten Klang, um nachgerade Autonomie - also erneute Unabhängigkeit - durch Ausbildung systeminterner Komplexität zu erlan-gen. Der Versuch, durch komplexe Algorithmen analogen Phänomenen gerecht zu werden, führt einerseits zur computerinternen Autonomie, andererseits zu dem an-gedeuteten Kausalitätsbruch. Komplexe Algorithmen mögen aus analogen Be-obachtungen gewonnen sein, doch bleiben sie zuletzt nur sich selbst verpflichtet, weil alle digitale Komplexität immer eine endliche bleiben wird, welche gegenüber der analogen zurückstehen wird. Insofern ist Feruccio Busonis Traum der absolu-ten Kontrolle über Ton und Ausdruck im Zeitalter der Digitalität zwar verwirk-licht, doch der Versuch, das Analoge in der Vollkommenheit zu repräsentieren, bleibt zum Scheitern verurteilt. Die im vorausgegangenen am Beispiel eines Streicherklanges beschriebene digi-tale Klangformung hat zum Ziel ein komplexes Syntheseergebnis, das in alle Rich-tungen hin zu bestimmen ist und zuletzt dem eigenen Idealitätsbestreben gerecht zu werden vermag. Es ist bei dieser Beschreibung explizit bezogen worden auf ein singuläres Klangereignis. In dieser Beschränkung auf ein singuläres Klangereignis ist schon Komplexitätsreduktion bedeutet. Das Einbinden eines solchen Klang-ereignisses in einen musikalischen Gesamtverlauf macht auf die Problematik, wel-che mit der Überführung von analog zu digital zu analog einhergeht, aufmerksam.