143 KOMPLEX UND AUTONOM: VON ANALOG ZU DIGITAL ZU ANALOG ZU ... Schon um jenen einzelnen Klang anreichern zu wollen mit einigen dynamischen Schattierungen, bedarf es einer erneuten zeitintensiven Annäherung an das vorge-stellte Klangideal oder eines Algorithmus, der dieses zu leisten imstande ist. Mit anderen Worten: Eine einzige denkbare Klanggestalt eines mechanischen Instru-mentes verwirklicht zu haben, heißt nicht, über alle einem Instrument immanente Klangfacetten zu verfügen. Folglich setzt die Existenz eines, vielleicht sogar im Sinne seiner Programmierer, vollkommen gelungenen Klanges nicht die Möglich-keit zum nuancenreichen, veritablen Musizieren voraus. Dazu bräuchte es einen Klang in all seinen dynamischen Abstufungen, wie ihn das analoge Klangereignis bietet. Dieser Anforderung genügen Synthesemaschinen der Jetztzeit immer noch nicht in dem gewünschten Maße. Sie ist aber unverzicht-bar, will ein klangmalendes, auf digitalem Processing beruhendes Musizieren dem analogen auch nur vergleichbare Phänomene erzeugen. Der instrumenteneigene Differenzierungsreichtum ist es aber, der über den reinen Klangcharakter eines In-strumentes zuvorderst beim Musizieren nachgefragt ist, was auch Erwin Stein schon in den 20er Jahren schreiben ließ: „Mögen unsere Instrumente, die ja zum Teil noch erstaunlich primitiv sind, in Zukunft noch so weitgehende Verbesserun-gen erfahren, mögen neue erfunden werden, welche den komplizierten Apparat des Orchesters noch so sehr reduzieren und vereinfachen, die Möglichkeit, den Klang dynamisch, rhythmisch und nach seiner Farbe zu regulieren, wird man ihnen wohl erhalten, nein, immer mehr erweitern müssen.“1 Aufgrund der außerordentlichen Komplexität von Obertonverläufen und der damit verbundenen mangelhaften For-malisierbarkeit ist es bisher nicht gelungen, die Authentizität realer Klänge befrie-digend zu simulieren, gerade dann nicht, wenn auch dynamische Schattierungen gewünscht sind. Die Klangsynthese scheitert an der komplexen physikalischen Struktur der realen Gegebenheit. Für die konkrete Klanggestaltung heißt das: Erst die Kenntnis um das genaue Obertonspektrum eines Klanges und seiner dynamischen Abstufungen - auf-schreibbar in einer endlichen Zahl von Ziffern - ließe einen Algorithmus formulie-ren, der im Endeffekt beispielsweise einen Klavierklang zum Ergebnis hat, der un-unterscheidbar von einem mechanisch erzeugten Klavierklang ist. Doch Oberton-verläufe entziehen sich der genauen Erfassung, was eben Folge ihres Autonomie-strebens ist. Das Mittel der Klangfotografie - das Sampling - umgeht das Problem, indem anstelle von Berechnung und Realisierung von Obertonverläufen in Echtzeit deren starre Fixierung tritt. Berechnet wird bei einer Realisierung folglich nicht der von einem Grundton sich aufbauende Klang, sondern das Klangphänomen in sei-ner Gesamtheit. Indem Sampler die Komplexität eines Obertonverlaufes, also den Realverlauf eines Klanges zu einem bestimmten Zeitpunkt fixieren und sozusagen eine Klangfotografie anfertigen, wird die Notwendigkeit der Klanganalyse umgan-gen. Der „abfotografierte“, gesampelte Klang hilft zwar, Authentizität vorzuspie-geln, fließende dynamische Abstufungen sind aufgrund ihrer Vielfalt aber auch mit 1 Stein, Erwin: Realisierung der Musik. In: ders. (Hg.): Pult und Taktstock, II. Jahrgang 1925, Heft 2/3, S. 31