BILDSCHIRM 144 UND MUSIK gesampelten Klängen unmöglich zu erzielen. Die Anzahl der dazu notwendigen Klangfotografien würde den Speicherbedarf eines jeden Samplers sehr rasch über-steigen. Die Unterscheidung zwischen „Real-“ und „Sampleklang“ bleibt also er-halten und ergibt sich allein aus der prinzipiellen Statik einer jeden Samplefotogra-fie, egal mit welchen Nachbearbeitungsmöglichkeiten diese Statik auch zu über-winden gesucht wird. Das macht die Suche nach neuen Syntheseformen weiterhin unverzichtbar, will man die Lebendigkeit und die Variationsreichtum analoger Klangkörper auch auf technischem Wege verwirklicht wissen. In dem Bestreben Klangauthentizität zu erzielen, war bislang der Weg beschrit-ten, immer neue, die Komplexität nachzeichnende Algorithmen zu formulieren, was zu dem bekannten Problem überkomplexer, kaum mehr zu durchschauender Programme führte, die zwar die Bandbreite möglicher Klangdifferenzierung erhöh-ten, schlußendlich aber dem angestrebten Ziel nie im gewünschten Maße gerecht werden konnten. Das ist auch Folge dessen, daß die zu simulierende konkrete Klanggestalt ja nicht für sich existiert, sondern schon ihre Vorgeschichte geschrie-ben hat, folglich also vielfältige komplexitätspotenzierende, das Klangverhalten beeinflussende Rückkopplungsbeziehungen durchlaufen hat, welche nicht mehr nachzuvollziehen und damit auch nicht mehr schlüssig zu formalisieren sind. Neue Syntheseverfahren sind daher bestrebt, nicht ausschließlich die Eigenkomplexität von Syntheseverfahren auf der Grundlage von zu errechnender Teiltonspektren zu erweitern, sondern umgekehrt, zugleich das zu berechnende Phänomen zu entkom-plexifizieren. Wenn also der einzelne Klang aufgrund seiner Komplexität einer ge-nauen Formalisierung widersteht, so ist es denkbar, nicht das Ergebnis Klang, son-dern den Ausgangspunkt des Klanges - das Instrument, den Instrumentenkörper - zu erforschen und gegebenenfalls zu formalisieren, wobei den Erkenntnissen der Chaosforschung Rechnung getragen wird, die besagen, „daß mit minimalen Ände-rungen im Ausgangszustand gewaltige Änderungen im Endzustand erreicht werden können.“1 Dieses Phänomen, das unter dem Terminus der „sensitiven Abhängig- 1 Fricke, Jobst Peter: Die Wechselwirkung von Mensch und Instrument im Zusammen-spiel von Physik und Psychologie. In: Enders, Bernd (Hg.) unter Mitarbeit von Han-heide, Stefan: Neue Musiktechnologie. Mainz 1993, S. 185 Diese Grunderkenntnis der Chaosforschung ist - darauf sei hingewiesen - so neu nicht. Schon kurz nach der Jahrhundertwende - im Jahre 1908 - hat der Mathematiker Henri Poincaré an mehreren Beispielen - so unter anderem auch an einem Beispiel aus dem Bereich der Meteorologie - das Prinzip kleiner Ursachen und ihrer großer Wirkungen erläutert: „Eine sehr kleine Ursache, die für uns unbemerkbar bleibt, bewirkt einen be-trächtlichen Effekt, und dann sagen wir, daß dieser Effekt vom Zufall abhängt. Wür-den wir die Gesetze der Natur und den Zustand des Universums für einen gewissen Zeitpunkt genau kennen, so könnten wir den Zustand dieses Universums für irgendei-nen späteren Zeitpunkt genau voraussagen.“ Da dies aber unmöglich ist, folgt daraus, daß „kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen große Unterschiede in den spä-teren Erscheinungen bedingen; [...]. Die Vorhersage wird unmöglich, und wir haben eine ‘zufällige Erscheinung’.“ (Poincaré, Henri: Der Zufall. In: Meyenn, Karl (Hg.): Lust an der Erkenntnis. Triumph und Krise der Mechanik. München 1990, S. 502f.). In Anführungszeichen gesetzt macht schon Henri Poincaré deutlich, daß in dem sich zu-