145 KOMPLEX UND AUTONOM: VON ANALOG ZU DIGITAL ZU ANALOG ZU ... keit von den Anfangsbedingungen“ firmiert1, zeigt, daß es sinnvoller ist, den Aus-gangspunkt eines Klanges zu simulieren, da die Komplexität des Klanges, je weiter man sich vom Klangursprung entfernt, zunimmt, was eine Analyse und eine daraus abgeleitete Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit des Klangverhaltens immer schwieriger werden läßt. „Bei der komplexen Konfiguration Klang, die außen als Ergebnis, das wir hören, vorliegt, findet [...] eine Vielfalt von spektralen Verände-rungen statt, wenn der Musiker nur minimale Änderungen an Lippenspannung, Bogendruck oder Kontaktstelle vornimmt.“2 Aktuelle Softwareentwicklungen folgen genau der Idee, das Klangverhalten rea-ler Körper zu analysieren und danach zu formalisieren. Genau hier setzt das neue Klangerzeugungsprinzip der Firma Yamaha an. Dieses neu entwickelte Klangsyn-theseprinzip, das „Physical Modelling“, welches auch „Virtual Acoustic Synthesis“ (VA-Synthese) genannt wird, basiert auf der Erforschung des Klangursprunges, „indem sie den Resonanzkörper, in und mit dem der Klang erzeugt wird, virtuell rekonstruiert.“3 Bevor der eigentliche Klang überhaupt entsteht, kann man schon Einfluß auf ihn nehmen. Es wird also der Klangkörper selbst zu rekonstruieren versucht, um daraus den Klang zu abstrahieren und schließlich zu konkretisieren. Jeder Klangprogrammierer „könnte direkt jeden nur vorstellbaren Klangkörper mit jeder nur vorstellbaren (virtuellen) Spieltechnik kombinieren“.4 Und das Ergebnis eines solchen Klanggenerierungsprozesses läßt Klangfarben Gestalt annehmen, die denen mechanischer Instrumente kaum mehr oder vielleicht auch in nichts mehr nachstehen. „Derartig authentische, atmende Saxophon- und Flötenklänge habe ich bislang noch nicht gehört - es sei denn bei den ‘lebendigen Vorbildern’.“5 Die Vor-stellung einer an das Klangvorbild gemahnenden Klangauthentizität mag man tei-len oder nicht, fest steht jedenfalls, daß sich die Klangunterschiede zwischen Ori-ginal- und Syntheseklängen mit jeder Computergeneration sowie jeder neuen Klangsynthese immer weiter verwischen werden. Daraus folgt dann aber: Indem Klangkörper mit Hilfe von Algorithmen modelliert werden können, sind Klang-fällig Ereignenden zum einen eine dem Menschengeist nicht erschließbare Ordnung verbirgt, welche zum anderen auf minimalen nicht ergründbaren Anfangsbedingungen beruht. Und auch Alan Turing formulierte etwas später im Jahre 1937: „Das System des ‘Universums als ganzem’ ist so beschaffen, daß minimale Fehler in den Anfangs-bedingungen zu einem späteren Zeitpunkt einen überwältigenden Einfluß haben kön-nen. Die Verschiebung eines einzigen Elektrons um einen billionstel Zentimeter in ei-nem Augenblick könnte ein Jahr später darüber entscheiden, ob ein Mensch von einer Lawine getötet wird oder ihr entkommt.“ (Turing, Alan: Intelligence Service, a.a.O., S. 158). 1 Vgl. Gleick, James: Chaos - die Ordnung des Universums. München 1988 2 Fricke, Jobst Peter: Die Wechselwirkung von Mensch und Instrument im Zusammen-spiel von Physik und Psychologie. In: Enders, Bernd (Hg.) unter Mitarbeit von Han-heide, Stefan: Neue Musiktechnologie, a.a.O., S. 186 3 von Keller, Robert: Synthesizer mit virtueller Akustik. In: Keys 12/93, S. 18 4 Ebd., S. 18 5 Yamaha VL 1. The next generation?. In: Keyboards 12/93, S. 49