151 PROJEKTIONSWIRKLICHKEITEN technik ersetzt menschliche Atemtechnik, und schon beginnt Mechanik natürlich zu wirken, dabei zugleich eine eigene Charakteristik des Natürlichen auszubilden. Die jeweilige mechanische Apparatur bedingt je eigene Artikulationsmöglichkei-ten. Das hat mit Natürlichkeit aber wenig, mit Konstruktivität und der Fähigkeit des Menschen zur strukturellen Kopplung mit seiner Umwelt dagegen sehr viel zu tun. Mechanische Instrumente sind solche, denen das Künstliche schlicht wesentlich ist. Jenes Künstliche zu naturalisieren, ist zum einen das Ergebnis der langjährigen Auseinandersetzung des Menschen mit dem Instrument und zum anderen das einer Gewöhnung des Hörens. Natürlichkeit ist nichts anderes als das Ergebnis einer bestätigten Erwartungshaltung, mehr nicht. Über die Künstlichkeit des Wirklichen in Erstaunen zu geraten und solches abzutun, ist also nicht angemessen. Die Bezie-hung des Menschen zu seiner Technologie hat Walter Ong einst mit Worten be-schrieben: „Technologien sind künstlich, aber - paradox genug - Künstlichkeit ist dem Menschen wesentlich. Sorgfältig interiorisierte Technologie degradiert das menschliche Leben nicht etwa, sondern erhöht es im Gegenteil. Das moderne Or-chester zum Beispiel ist das Ergebnis hoher Technologie. Die Violine ist ein In-strument, gewissermaßen ein Werkzeug. Eine Orgel ist eine riesige Maschine, mit Kraftquellen - Pumpen, Blasebälgen, Generatoren - alles dem Spieler vollkommen äußerliche Dinge. Beethovens Partitur zu seiner 5. Sinfonie besteht aus sehr sorg-fältigen Anweisungen für hochspezialisierte Techniker, in denen er genau vor-schreibt, wie die Werkzeuge zu benutzen sind. [...].Was glaubt man, woher der Klang der Orgel kommt? Oder der Klang der Violine oder sogar der Pfeife? Tatsa-che ist, daß ein Geiger oder ein Organist, indem sie eine mechanische Vorrichtung benutzen, etwas ergreifend Menschliches ausdrücken können, was ohne diese Ver-richtung nicht ausgedrückt werden könnte. Um das zu erreichen, müssen Geiger und Organist natürlich die Technologie interiorisiert haben, müssen sie das Werk-zeug oder die Maschine zu ihrer zweiten Natur verwandelt haben, zum Teil ihrer eigenen Psyche.“1 Anders ausgedrückt: Mensch und Technik pflegen eine symbio-tische Beziehung, die sich dann - wo diese Prothesenkopplung gelingt - für diesen als natürliche darstellt. Man sieht, ein Zeitalter der mechanischen Instrumente ist nicht weniger künst-lich oder natürlich (wie man will), wie das jetzige mehr und mehr von computer-simulierten Klangereignissen bestimmte. Der Unterschied zwischen natürlich und künstlich liegt einzig in der zeitlichen Differenz, die zwischen einem erstmalig wahrgenommenen und einem vielfach gehörten Klangereignis liegt. Das Virtuelle realisiert sich mit den Computermedien, während das Reale sich im gleichen Maße weiter relativiert. Wo Klangerwartungen bestätigt sein wollen, gerät die Art der Klangentstehung - früher oder später - zur Marginalie. So vermag auch das simulierte Klangereignis also das wirkliche Klangereignis nicht nur zu substituieren, sondern diesem schließlich schlicht zum Vorbild zu werden. Eine solche Verkehrung von Wirklichkeitsvektoren, die im Grunde keine ist, ist in der 1 Ong, Walter: Oralität und Literalität, a.a.O., S. 85