MUSIKMASCHINEN 198 UND KLANGFINDUNG stellung, die die Entscheidung, ob ein Klang archiviert werden soll oder nicht, nicht von der Qualität desselben abhängig macht, sondern ganz einfach davon, daß er existiert. Hierin drückt sich eine grundsätzliche Tendenz aller digitalen Signalverarbei-tung aus: Die Umgehung einer definitiven Entscheidung durch Speicherung. Da-rum schreibt auch Jean Baudrillard - bezogen auf die Schreibarbeit von mit Com-putern hantierenden Wissenschaftlern: „So ringen Studenten und Forscher mit ih-ren Computern, korrigieren, überarbeiten, und verbessern unablässig und machen dergestalt aus der Arbeit eine Art unendlicher Psychoanalyse, sie speichern alles, um jeden Schluß und Entschluß zu umgehen“, und so versuchen sie, „mittels fort-dauerndem Feed-Back und unaufhörlicher Interaktion mit der Maschine, [...], den [...] fatalen Moment des Schreibens aufzuschieben.“1 So werden auch Klänge un-aufhörlich neu generiert und verbessert, gespeichert, nur um sogleich wiederum weiterbearbeitet zu werden, so daß ein Feedback-Kreislauf entsteht, der kein ei-gentliches Ende mehr kennt. Lediglich synthesizerinterne Speichergrenzen stellen noch mögliche Begren-zungen dar und fordern schlußendlich doch noch zum Ja oder Nein auf. Doch die Möglichkeit zur externen Speicherung via MIDI auf Diskette vervielfältigt das festgelegte und bisweilen eingeschränkte Speicherplatzangebot von Synthesizern. Für den DX-7, der intern 32 Speicherplätze zu verwalten vermag, werden im Kleinanzeigenmarkt von Keyboardzeitschriften Klangbibliotheken oder Libraries offeriert, die nicht selten 10000 Klänge zur Auswahl bereithalten: „DX7/TX7: 10000(!) Profisounds + Bankloader (C64/Atari ST) DM 99.-“.2 (Wollte man den Wert von Klang am zugrundegelegten Preisniveau messen, so weist sich die Klangwelt von Synthesizern mittlerweile durch ihre absolute Wert-freiheit aus, wenn schon 100 Sounds oder besser gesagt 100 Profisounds für 99 Pfennig zu erhalten sind.) Die reine Quantität von Klängen wird als Qualitäts-merkmal ausgewiesen, wobei das die Besonderheit der Zahl 10000 ausweisende Ausrufezeichen schon bald andere Zifferngrößen zieren wird. Einige weitere Beispiele seien angeführt: „Tausende Sounds für WS-EX/ AD/SR, M1, T-Serie, DW-8000, K1, K4, DX-7, SY-77, D-50 m. Bkl. + Samp-les für S-2800, pro Disk 25.-“ oder „5000 Korg M 1 od. Roland D 50 Sounds, DM 49.-“, „6000 M1-Sounds (kein Mist), incl. Bankloader für Atari“.3 Speichergrenzen für Synthesizersounds existieren - allein schon aufgrund des geringen Speicherbedarfes einzelner Sounds - schon längst nicht mehr. Aber auch für speicherintensive Systeme sind längst alle Grenzen gefallen, was ein letztes Beispiel belegen mag. Samples für Sampler erfordern einen großen Speicherbe-darf. CD-Roms beseitigen auch hier mögliche Systembegrenzungen: „4 neue CD-Roms (alle Musikrichtungen) mit je 500 MB, gesamt über 17000 Samples sofort spielbereit, je 398.-“.4 1 Baudrillard, Jean: Videowelt und fraktales Subjekt, a.a.O., S. 118 2 Keyboards 08/93, S. 140 3 Ebd., S.140/142 4 Ebd., S. 138