VOM RAUSCHEN DER KANÄLE 207 on. Ein Beispiel aus der Geschichte der elektronischen Musik soll dies verdeutli-chen: „Ligeti hat einmal erzählt, daß er, als er noch in Ungarn lebte und Neue- Musik-Sendungen der westeuropäischen Rundfunkanstalten mit einem ziemlich einfachen Radiogerät (‘Lo-Fi’) hörte, besonders von dem phantastischen Klang dieser ‘Avant-Garde’-Musik begeistert gewesen sei. Erst, als er dann in den 50er Jahren nach Deutschland kam, bemerkte er, daß dieser reizvolle Klang großenteils durch Störungen in der Übertragung der Rundfunksendungen verursacht worden war. Seine Enttäuschung war zunächst zwar groß, aber er hat ja dann selbst ziem-lich bald die Möglichkeiten der elektronischen Musik entdeckt und - was für sein Schaffen später noch wichtiger war - eine Methode entwickelt, mit traditionellen Instrumenten, die auf herkömmliche Weise gespielt werden, diese phantastischen ‘elektronischen’ Klänge zu erzeugen.“1 Anschaulicher als hier geschehen, können medientechnische Effekte, bedingt durch sich mitteilende Übertragungsmaterialitä-ten, kaum mehr beschrieben werden. Nicht Komponistenkünste noch Produzenten-leistung sind verantwortlich für jene phantastischen Klänge, für die sich Ligeti zu begeistern weiß, sondern zunächst einmal „Lo-Fi“-Übertragungsmaterialitäten und Studiotechnik schreiben neue Klangideen in Komponistenköpfe ein. Aufgrund ei-nes Irrtums, der auf der Fehlinterpretation eines auf dem Übertragungswege er-zeugten Störgeräusches zu einer sinnvollen musikalischen Information gründet und die prinzipielle Ununterscheidbarkeit zwischen Information und Störung belegt, er-schließt sich für den Komponisten Ligeti eine neue Klangwelt, die für sein späteres Schaffen Vorbildcharakter hatte. Nun bedarf es nur noch, um das nunmehr denkbar Gewordene auch zu verwirklichen, entsprechender Maschinen, welche in der Rückkopplung mit Musikschaffenden, diesen wiederum zugleich Wege aufzeigen, auf elektronischem Wege entworfene neue Klangwelten auch ohne Maschinenbe-teiligung zu verwirklichen. Das führt schließlich zu Werken, die elektronisch klin-gen, aber mit dem Instrumentarium des klassischen Orchesters gespielt sind. Lige-tis Orchesterstücke „Apparations“ sowie sein Stück „Atmosphères“ wären „ohne die Erfahrung im elektronischen Studio [...] nicht so komponiert, wie sie eben komponiert worden sind.“2 Und noch deutlicher wird dieses Rückkopplungsge-flecht, wenn György Ligeti über sein „Requiem“ schreibt: „Es handelt sich um rei-ne Vokal- und Instrumentalmusik, es hat aber mit den Erfahrungen im elektroni-schen Studio insofern zu tun, als ich nie auf die Idee gekommen wäre, instrumental oder vokal an der Verwischungsgrenze zu arbeiten, wenn ich die Erfahrung im Studio nicht gehabt hätte.“3 So schreibt der Komponist Ligeti folglich nur nach, was ungenügende Übertragungsmaterialitäten längst vorgeschrieben und Studio-technik an Ideen in Komponistenhirne eingeschrieben haben: Menschennachschrif- 1 Tiensuu, Jukka: Technologische Entwicklungen. Ihr Einfluß auf Denken und Praxis gegenwärtiger Musik. In: Haselauer, Elisabeth/ Müller, Karl-Josef (Hg.): Europäische Gegenwartsmusik - Einflüsse und Wandlungen, a.a.O., S. 38 2 Ligeti, György: Auswirkungen der elektronischen Musik auf mein kompositorisches Schaffen. In: Winckel, Fritz (Hg.): Experimentelle Musik. Berlin 1970, S. 74 3 Ebd., S. 76